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2015

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Der einsame Speerwerfer im Land der Läufer – Jürg Wirz berichtet

By GRR 0

Noch nie hat ein Werfer oder Springer eine Olympia- oder WM-Medaille für Kenia geholt, immer nur Läufer. „YouTube-Mann" Julius Yego ist der Erste. In Peking schaffte er das Unmögliche: Weltmeister mit 92,72 Meter – Platz drei in der Weltbestenliste aller Zeiten.

Julius Yego ist ein typischer Afrikaner. Zuerst lässt er das Treffen platzen, dann verschiebt er es und schliesslich erscheint er mit einer Stunde Verspätung. Doch dann hat er alle Zeit dieser Welt, lädt den Journalisten auch zu sich nach Hause ein, wo seine Frau Sincy einen „Chai" – mit viel Milch und Zucker aufgebrühter Tee – serviert, das traditionelle Willkommensgetränk.

Ein typischer Afrikaner, aber kein typischer kenianischer Athlet.

Er ist der einsame Speerwerfer im Land der Läufer. Und nicht irgendeiner: Im August wurde er in Peking Weltmeister. Ein kleines Wunder, denn erst seit Frühling 2012 hat er einen Coach. Vorher hat Julius Yego die Technik und das Training von Andreas Thorkildsen, dem zweifachen Olympiasieger aus Norwegen, im Internet abgeschaut und kopiert und holte sich so als Selfmademan bereits die Goldmedaille an den Afrika-Spielen 2011.

Wir treffen uns in seinem Landhaus, eine halbe Autostunde von Eldoret entfernt, der Hauptstadt der Läufer. Ein einfaches Backsteinhaus mit Wellblechdach. Die Latrine befindet sich ausserhalb. Kein fliessendes Wasser und keine Elektrizität. Eine Kuh mit ihrem Kleinen teilt sich das Grundstück friedlich mit ein paar Hunden und Hühnern.

Afrika pur.

Nur die Satelittenschüssel und der Sonnenkollektor auf dem Dach und im Inneren des Hauses ein Poster von Beyoncé neben einem Bild von Jesus weisen darauf hin, dass hier kein Gewöhnlichsterblicher wohnt. Es sind Dinge, die sich nicht jeder leisten kann und die zeigen, dass auch die westliche Kultur einen Platz im Leben des Besitzers hat. „Ich liebe diese Gegend", sagt Julius Yego dann, „es ist sehr ruhig und die Luft ist hier noch rein."

Trotzdem hat er nun etwas näher zur Stadt ein grösseres und besseres Haus gebaut. Der Erfolg verpflichtet.

Dritter über 10 000 Meter…

Julius Yego ist ein Nandi, so wie Kipchoge Keino, Henry Rono, Moses Tanui, Janeth Jepkosgei und viele, viele andere berühmte Läufer des Landes. Und auch er versuchte sich in der Primarschule als Läufer. „Ich lief oft. Jeder lief. Keino und Tergat – das waren unsere Helden. Einmal machte ich bei einem 10 000-Meter-Rennen mit. Ich wurde Dritter", sagt er zum Erstaunen seines Gegenübers, liefert dann aber, mit einem Lachen, gleich die Erkärung: „Wir waren nur drei. Ich wurde mehrmals überrundet und musste erkennen, dass ich nicht zum Läufer geboren bin. Ich war als Kind etwas füllig."

Es war sein älterer Bruder, der ihn zum Speerwerfen brachte.

„Mein Bruder gewann das Sperwerfen an einem Schulwettkampf. Da sagte ich mir, wenn der das kann, kann ich das auch. So nahm ich im folgenden Jahr, ich war 12, auch teil und gewann vor meinem Bruder. Wir hatten keine Speere, wir benutzten einen Stecken. Danach dachte ich, okay, es scheint, dass ich dafür ein bisschen Talent habe. Das Problem war allerdings, dass wir nur im Mai einen Schulwettkampf hatten. Danach war die Saison bereits zu Ende und ich spielte, wie alle anderen Jungs, wieder vor allem Fussball."

Richtig packte ihn das Speerwerfen, als er mit 15 die Übertragung des olympischen Speerwurfwettkampfs in Athen am Fernsehen sah. „Ich war fasziniert, wie die Speere durch die Luft segelten. Vor allem Andreas Thorkildsen hatte es mir angetan. Als ich seinen Wurf zum Olympiasieg in Zeitlupe sah – Mensch! Eines Tages wollte ich so sein wie er."

Bis Julius Yego in die internationale Elite vorstiess, vergingen allerdings noch viele Jahre, Jahre, in denen er als Selfmademan einen Weg suchen und ohne Unterstützung des nationalen Leichtathletikverbandes viele Hindernisse überwinden musste.

„In der Oberschule hatte ich einen Lehrer, der mich ermutigte und offenbar mein Talent erkannte", erzählt er. „Aber er hatte keine Ahnung von der Technik. Trotzdem wurde ich 2005, mit 16, erstmals nationaler Juniorenmeister, ein Jahr später, in meinem letzten Schuljahr, brach ich mit 71 Metern den Rekord. Ich schaffte diese Weite ohne eigentliches Training und benutzte Running-Spikes, die mir ein Kollege gab."

Polizei-College und dann der Durchbruch

Seine Leistungen als Jugendlicher entgingen auch der Polizei nicht, die neben Armee und Gefängnisverwaltung seit Jahren den Sport in Kenia fördert, indem Talente eine Anstellung bekommen, aber während der Karriere keinen Dienst leisten müssen. 2007 war Julius Yego an der Polizeischule. Im folgenden Jahr wurde er zum ersten Mal Landesmeister. Die Polizei kaufte jetzt sogar einen Speer für ihn, aber einen, wie er sagt, mit dem man nur ganz selten einmal werfen konnte, weil er sich sonst verbog.

Sein Training bestand aus Laufen und einmal in der Woche Krafttraining. „Ich kannte nur zwei Übungen: Bankdrücken und tiefe Kniebeugen mit einer Langhantel." Das änderte sich erst, als Hammerwurf-Weltrekordhalter Juriy Sedykh in Nairobi einen zweiwöchigen Kurs für afrikanische Athleten gab, zu dem auch Yego eingeladen war. „Sedykh verstand nicht viel vom Speerwerfen, aber immerhin konnte er mir sagen, dass ich mit meinen vielen Lauftrainings meine Leistung nicht werde verbessern können."

Athletics Kenya hatte keine Trainingsvideos, und so ging Yego schliesslich in ein Internetcafé, googelte nach Andreas Thorkildsen und fand, was er suchte: Thorkildsen im Gym, Thorkildsen beim Techniktraining, Thorkildsen im Wettkampf. „Ich sah alle Übungen, die er machte. Ich nahm die Aufnahmen nach Hause, schaute sie mir jeden Tag an und begann zu kopieren."

Die Fortschritte liessen nicht lange auf sich warten. Ein paar Monate später gewann Yego als Dritter an den Afrika-Meisterschaften in Nairobi seine erste internationale Medaille. Ein Jahr später wurde er Sieger an den Afrika-Spielen in Maputo. „Danach ging alles sehr schnell", sagt der 90-Kilo-Mann mit einem Lachen im Gesicht. Die Geduld hatte sich gelohnt. „Jukka Härkönen lud mich Ende 2011 nach Finnland ein und nahm mich unter Vertrag. Wieder zurück in Kenia kam das IAAF-Angebot: sechs Monate Trainingszentrum in Kuortane.

Weil die finnische Botschaft kein Visum für ein halbes Jahr geben konnte oder wollte, ging der „YouTube-Mann" im April 2012 drei Monate hin und lernte dort den Coach Petteri Piironen kennen, der ihn seither betreut.

Das Training ist inzwischen strukturiert: jeden Tag eine halbe Stunden laufen, dazu Stretching und Gymnastik und bis zu viermal in der Woche Krafttraining im Gym. Angereichert wird das Menü mit technischen Übungen und Bewegungsabläufen, mit und ohne Speer.

Auch in Rio aufs Podest

An den Olympischen Spielen in London qualifizierte sich Julius Yego mit 81,81 Meter für den Endkampf, in dem er schliesslich Zwölfter wurde. In Kenia war er damit endgültig zum Helden geworden. Inzwischen lacht er von grossen Plakattafeln und wirbt für die Telekommunikationsfirma Orange. Der vierte Rang an der WM in Moskau mit neuer Bestleistung von 85,40 Meter war die logische Folge seines Aufstiegs. Inzwischen ist er bei 92,72 angelangt – Jahres-Weltbestweite bei seinem WM-Triumph. Und trotzdem sagt er: „Der Wurf in Peking war super, aber ich weiss, dass ich noch konstanter werden kann. Speerwerfen ist sehr anspruchsvoll. Es braucht Kraft und Explosivität. Meine Technik lässt mich ab und zu noch im Stich."

Nächstes Jahr in Rio soll es auch die erste Olympiamedaille geben. Den letzten Schliff will er sich auch dann In Finnland holen. Hilfe vom kenianischen Verband erwartet er nicht. Er bezeichnet sich als Einzelkämpfer. Aber dann fügt er noch den Satz an: „Ich hoffe schon, dass mein WM-Sieg im Land der Läufer etwas bewirkt. Ich bin sicher nicht das einzige Wurftalent."

Zahlen und Fakten zu Julius Yego

Geboren: 4. Januar 1989 in Cheptonon (Nandi County)

Wohnort: Eldoret (mit seiner Frau Sincy)

Grösse/Gewicht: 1,75 m/90 kg (ausserhalb der Saison 94)

Trainer: Petteri Piironen vom IAAF-Trainingzenter in Kuortane, bis 2011 ohne Coach

Verein: Kenya Police

Grösste Erfolge:

2010: 3. AM Nairobi, 7. CS Neu-Delhi; 2011: 1. AS Maputo; 2012: 1. AM Porto Novo, 12. OS London; 2013: 4. WM Moskau; 2014: 1. AM Marrakech, 1. CS Glasgow; 2015: 1. WM Peking, Welt-Jahresbester mit 92,72 m. – Siebenfacher Landesmeister

AM = Afrika-Meisterschaften, AS = Afrika-Spiele, CS = Commonwealth-Spiele, OS = Olympische Spiele, WM = Weltmeisterschaft

Jürg Wirz in LAUFZEIT & CONDITION – Oktober 2015

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author: GRR

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