Sieht vieles kritisch: Helmut Digel, der ehemalige Präsident des Deutschen Leichtathletikverbands. ©Uni Tübingen
Helmut Digel im Gespräch – „Blatter hat das nicht erfunden“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Korruption der Fifa ruft Staatsanwaltschaften in Amerika und in der Schweiz auf den Plan, und trotzdem wird ihr suspendierter Präsident Joseph Blatter in der Leichtathletik als leuchtendes Vorbild gesehen.
Warum bejubeln ihn afrikanische Verbandsfürsten?
Blatter steht in der Sport-Hierarchie ganz oben; er hat Macht. Sie beruht darauf, dass er einen großen Teil der Einnahmen des Fußballs großzügig an die Repräsentanten der kleinen und kleinsten Verbände verteilen konnte, von denen es mehr gibt als Staaten auf der Welt.
Dies ist das Vorbild?
Blatter hat das nicht erfunden. Primo Nebiolo hat so agiert, der Präsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF) der achtziger und neunziger Jahre aus Italien. Juan Antonio Samaranch, der Präsident des Internationalen Olymischen Komitees (IOC), hat ,Olympic Solidarity‘ zu einem Machtinstrument ausgebaut. Das Geld aus Fernsehrechten und Vermarktung an die Kleinen zu verteilen ist naheliegend. Wenn man so hohe Einnahmen hat wie die Fifa, hat man ja zunächst das Problem: Wie gebe ich das ganze Geld aus? Sportverbände sind ehrenamtliche und gemeinnützige Vereinigungen, die keine Gewinne machen dürfen. Also geht das Geld an deren Mitglieder, um damit bestimmte Entwicklungsprojekte zu finanzieren. Das ist in der Leichtathletik nicht anders als im Fußball.
Basiert dieses Prinzip darauf, dass augenzwinkernd gar nicht zwischen Verband und Präsident unterschieden wird?
Zunächst ist es Grundlage für den Erwerb von Macht. Blatter war der Verantwortliche für das „development program“ (Entwicklungsprogramm) im Fußball. Dann wurde er Generalsekretär. Er hat entschieden, wer wie viel bekommt. Damit war er für alle Verbände die wichtigste Person. Diese Rolle hat er, genau wie Nebiolo, behalten, als er Präsident wurde. Auch dessen Nachfolger im Internationalen Leichtathletik-Verband, Lamine Diack, blieb als Präsident zunächst Vorsitzender der Entwicklungs-Kommission. Seit wir nach dem Prinzip ,one country, one vote‘ (ein Land, eine Stimme bei Wahlen im Verband unabhängig von der Größe/Anm. d. Red.) agieren, kann solch ein Posten die verantwortliche Person nach ganz oben bringen. Wer die Verbandspräsidenten einer Reihe von Inselstaaten auf seine Seite bringt, und das gelingt mit kleinen Gaben, für den ist unerheblich, was die Mehrheit Europas denkt und tut.
Kommt das Geld dort an, wo es hin soll?
Immer mehr Athleten aus kleinen Ländern gewinnen bei den großen Meisterschaften Medaillen. Dies ist ein Effekt der Entwicklungsprogramme. Aber die Geschichten gibt es natürlich auch, dass ein Trainer in ein Land einreist und die Sachspenden, die vor ihm eintreffen sollten, auf dem örtlichen Markt zum Verkauf angeboten werden. Angesichts der Armut und der Perspektivlosigkeit in vielen dieser Länder liegt es nahe, dass es zu Missbrauch kommen kann.
Sie wirkten in Peking nach der Wahl des IAAF-Präsidenten und besonders des Councils der IAAF empört. Ist der neue Präsident Sebastian Coe auf einem Basar ins Amt gekommen?
Meine Empörung galt insbesondere den Council-Kollegen aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Letzterer …
… Ahmad Al Kamali, ein Rechtsanwalt …
… hat in den vergangenen vier Jahren wahrlich nicht bewiesen, dass er ein sinnvoller Teil der Leichtathletik wäre. In keiner einzigen Council-Sitzung hat er auch nur einen konstruktiven Beitrag geleistet. Dennoch wurde er mit der höchsten Stimmenzahl wiedergewählt. Der andere …
… Nawaf Bin Mohammed Al Saud …
… ist einer der vielen Prinzen aus der Königsfamilie. Er hat, wenn man dem glaubt, was kolportiert wurde, den Leuten Geschenke überlassen, damit sie ihn wählen. In Saudi-Arabien dürfen bis heute Frauen nicht Sport treiben. So jemanden wählen die Delegierten in das höchste Gremium des Weltverbandes!
Sebastian Coe wird Mitglied des IOC werden. Halten Sie es für vertretbar, dass er beide Ämter bekleidet, während er gleichzeitig Berater des Sportartikelherstellers Nike bleibt sowie Vorstandsvorsitzender der Agentur CSM, zu deren Geschäft die Akquise und die Vermittlung von Sportveranstaltungen gehört, etwa der Europa-Spiele nach Baku?
Der Sport hat in dieser Hinsicht alle Warnungen erhalten, die nur an ihn herangetragen werden können. Das IOC hat Regeln vorgegeben, an die sich alle halten müssen. Sebastian Coe hat selbstverständlich das Recht, einen Beruf auszuüben. IAAF-Präsident ist er im Ehrenamt. Nun stellt sich die Frage, ob das Präsidentenamt weiterhin ehrenamtlich ausgeübt werden kann. In dem Moment, in dem das Amt in Widerspruch gerät mit Privatinteressen des Mandatsträgers, müssen entweder die Ethikkommission der IAAF oder das Council intervenieren; beide haben allerdings bis heute nicht gezeigt, dass sie in solchen Angelegenheiten ihrem Auftrag gerecht werden. Ich kann Sebastian Coe nur empfehlen, transparente Verhältnisse herzustellen, wie sie auch Thomas Bach im IOC geschaffen hat. Was der Verband als Aufwandsentschädigung und Honorar zahlt, muss bekanntgemacht werden.
In seinem Geschäftsgebaren immerhin sind die Leichtathleten transparent wie kaum jemand: Ihre Weltmeisterschaft ist Handelsware geworden. Die WM 2019 geht an Doha, weil der Emir von Qatar 37 Millionen Dollar versprochen hat, und die WM 2021 haben Präsidium und Council zum Jubiläum der Firma Nike an deren Gründungsort Eugene in Oregon vergeben. Wie stellt sich das für Sie dar?
Ich glaube gerade nicht, dass die Finanzen der IAAF transparent sind. Wie beim IOC sollten Einnahmen und Ausgaben öffentlich nachvollziehbar und kontrollierbar sein. Das ist, auch angesichts der Probleme der Fifa, ein zwingendes Gebot. Was die Vermarktung der Leichtathletik angeht: Sie hat Warencharakter und tritt an im Genre der Unterhaltungsindustrie. Bei beiden Entscheidungen, die Sie anführen, wurden die Regeln, die wir uns in der IAAF gegeben haben, nicht beachtet. Beide sind fatale Fehlentscheidungen.
Die WM in Qatar muss wegen der Hitze auf den Oktober verschoben werden.
Dies schadet der Leichtathletik mittel- und langfristig. Denn die höchste Aufmerksamkeit erreicht sie in dem Zeitfenster, das der Fußball ihr im August eröffnet. Wenn wir diesen Zeitpunkt aufgeben, konkurrieren wir in Europa, unserem wichtigsten Markt, mit der Champions League und den Fußball-Meisterschaften aller großen Länder. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass wir in dieser Konkurrenz so hohe Einschaltquoten erreichen wie im Sommer. Die Quote aber ist die Einheit, in der die Bedeutung der Sportart gemessen wird. Man kann jetzt schon prognostizieren, dass der Wert der Sportart nach Doha gesunken sein wird, jedenfalls in seiner Fernseh-Relevanz.
Und die WM in Amerika?
Eugene ist eine reizende Universitätsstadt, aber für eine Leichtathletik-WM fehlen alle Voraussetzungen. Zudem haben wir neun Stunden Zeitverschiebung. Für europäische Fernsehzuschauer wird die Weltmeisterschaft dort praktisch nicht existent sein, auch wenn sie im August stattfindet. Diese Entscheidung ist empörend. Denn sie wurde ohne Ausschreibung getroffen, sie stand nicht einmal auf der Tagesordnung. Auf diese Weise wurde Göteborg, das sich für 2021 bewerben wollte, von dem Verfahren ausgeschlossen. Es gab im Council nur eine europäische Stimme dagegen und eine Enthaltung.
Ich nehme an: von Ihnen.
Alle anderen Europäer im Council stimmten zu.
Ich nehme an: auch Coe.
Diese Entscheidung wird gravierende Folgen haben. Wenn der Vertrag mit den europäischen Fernsehanstalten zur Neuverhandlung ansteht, wird die EBU weniger bieten als bisher; zwei Mal wird es miserable Quoten gegeben haben. Das wird sich auf die gesamte Vermarktung der Leichtathletik auswirken.
Steht Coe für die Blatterisierung der Leichtathletik, oder sehen Sie ihn als Hoffnungsträger?
Für mich ist er ein Hoffnungsträger. Aber er muss beweisen, dass er die vielen Hoffnungen, die man an die Leichtathletik heranträgt, zumindest ernst nimmt und sich bemüht, dass mindestens einige davon in Erfüllung gehen. Die zentrale Frage ist: Meint er es ernst mit dem Kampf gegen Doping? Mit welchen Maßnahmen wird er diesen Kampf führen, mit welchem Team, mit welchen internationalen Partnern?
Er will die Doping-Bekämpfung auf eine Institution außerhalb der IAAF übertragen.
Dies ist mehrdeutig. Man könnte vermuten, dass die Verbände sich raushalten und mit dem Problem nichts mehr zu tun haben wollen. Das wäre der falsche Weg. Denn das Problem wird erzeugt von Athleten, von Managern, von einer Entourage, die den Sportler verführt. Doping ist zunächst ein Betrug innerhalb des Sports. Die Verantwortung kann man nicht outsourcen.
Halten Sie die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) für geeignet, der IAAF die Doping-Kontrollen, die Sanktionierung und womöglich auch die Prävention abzunehmen?
Ich habe sowohl strukturell als auch personell Bedenken. In der Bearbeitung der öffentlich diskutierten Fälle Kenia, Russland und Amerika, aber auch im Umgang mit Sportarten wie Schwimmen ist die Wada für mich nicht glaubwürdig. Entweder ist dort zu wenig Personal oder das falsche. Auch strukturell ist es falsch, wie das Beispiel Deutschland zeigt, alles der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada) zu übertragen, was mit Doping zu tun hat. In den Präsidien beschäftigt sich niemand mehr mit Doping, außer dass sie die Fälle in der Zeitung nachlesen. Wir haben immer so getan, als sei das Doping-Problem mit Gründung der Nada gelöst worden. Das ist falsch. Sie war immer personell unterbesetzt, und sie war strukturell gar nicht befugt, all das zu tun, was sie tun soll. Es bedarf doppelter Strukturen: innerhalb der Sportorganisationen und außerhalb.
Wäre Druck vom Geldgeber hilfreich?
Das Internationale Olympische Komitee sollte die Ausschüttung seiner Mittel an die Verbände an Bedingungen knüpfen, wie auch die internationalen Verbände die Weitergabe des Geldes von der Doping-Bekämpfung abhängig machen sollten. Wer Doping nicht bekämpft, darf nicht gefördert werden. Mehr noch: Solche Verbände müssen ausgeschlossen werden von Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen.
Bald ist der ARD-Film über Doping in Russland ein Jahr alt. Die Kronzeugen sind untergetaucht, und statt von Ermittlungen erfährt man, dass Wada-Präsident Reedie dem russischen Sportminister Mutko versichert, dass nichts ihre Freundschaft gefährden könne. Erfüllte dies nicht die Bedingungen eines Förderstopps?
Für mich reicht das schon lange. Wenn eine Ethikkommission wie die der IAAF die Ermittlung von Fällen nicht zu Ende bringt, ist dies ein Skandal. Gleiches gilt für die Untersuchungskommission der Wada. Selbstverständlich brauchen wir Beweise und ordentliche Verfahren und Entscheidungen vor Gericht. Das haben wir nicht in allen Fällen. Was aber Russland betrifft, haben wir Video-Dokumentationen, die zeigen, wie Trainer Doping-Mittel weitergeben, wie Athleten darüber sprechen, wie sie dopen. Da kann man doch erwarten, dass auf dieser Grundlage Überprüfungen stattfinden und finale Entscheidungen getroffen werden. Selbst wenn die Leute mangels Beweisen freigesprochen werden, dann gibt es zumindest ein nachvollziehbares Verfahren. Ich war bis September Mitglied des IAAF-Councils und trug Verantwortung für die Welt-Leichtathletik. Ich konnte aber weder im Fall Russland noch im Fall Kenia die Sachverhalte genauer nachvollziehen, weil mir jede Information vorenthalten wurde.
Gabriel Dollé, der Vorsitzende der Anti-Doping-Abteilung der IAAF, ist vor einem Jahr verschwunden. Wissen Sie, warum?
Das ist mir bis heute nicht erklärt worden; das Thema stand in keiner Council-Sitzung auf der Tagesordnung. Es gab und gibt bis heute nur Spekulationen.
Wenn Thomas Bach, der IOC-Präsident, Sie fragte, wie es mit der Förderung der Leichtathletik weitergehen soll – alle vier Jahre erhält die IAAF vom IOC vierzig Millionen Dollar -, würden Sie ihm raten, diese zu sperren?
Er sollte Bedingungen formulieren. Das IOC kann Aufklärung darüber verlangen, was aus den öffentlichen Vorwürfen geworden ist. Wenn es Verfahren gibt, kann man deren Ende abwarten. Aber wenn erkennbar wird, dass ein Verband nicht kooperiert und selbst Teil des Betruges ist, muss das finanzielle Konsequenzen haben.
War die IAAF in Manipulationen und deren Vertuschung verwickelt?
Für mich ist das kaum vorstellbar, angesichts der 25 Jahre, die ich miterlebt habe. Jahr für Jahr hat unser Verband mehr Mittel aufgewendet und mehr Personal beschäftigt, um des Betruges Herr zu werden. Derzeit wenden wir rund drei Millionen Dollar pro Jahr auf für ein eigenes Kontrollsystem, das größte, das es im Sport gibt. Die IAAF hat durchaus Modellcharakter für andere Verbände. Vor diesem Hintergrund war es empörend, der Presse entnehmen zu müssen, dass mein Verband möglicherweise in einen Skandal verwickelt ist, bei dem Kollegen aus dem Council und Mitarbeiter des Verbandes eine entscheidende Rolle gespielt haben sollen.
Sie sprechen von der Marathonläuferin Lilja Schobukowa, die knapp eine halbe Million Dollar dafür gezahlt hat, dass sie trotz Unregelmäßigkeiten nicht gesperrt wurde.
Diese Anschuldigung steht im Raum. Entweder wird sie widerlegt, oder es muss zu den notwendigen Strafen kommen.
Was erwarten Sie von Coe über die Doping-Bekämpfung hinaus?
Er hat versprochen, junge Menschen an die Leichtathletik zu binden. Er muss sich daran messen lassen, ob er dem Trend entgegenwirken kann, dass diese Sportart in sich selbst vergreist. Denn unser Fernsehpublikum ist Jahr für Jahr älter geworden und hat ein Durchschnittsalter von mehr als fünfzig Jahren. Dies ist ein Problem genauso wie die Erneuerung der Weltmeisterschaft selbst.
Die Vergreisung ist umso erstaunlicher, als man den Eindruck hat, dass der Sport schnell aus seiner Rolle als Teilnehmer am Kalten Krieg in eine hemmungslose kapitalistische Ausbeutung geschlüpft ist. Wie sehen Sie die Rolle der Leichtathletik?
Die Totalisierung des Kommerzes ist weit fortgeschritten. Immer mehr Menschen sind im Sport tätig, die ihn lediglich aus kommerzieller Sicht betrachten. Deren zentrale Frage ist: Wie kann ich mit dem Sport Gewinne erzielen? Dies prägt natürlich auch die Leichtathletik. Sie konkurriert mit anderen Sportarten und weiteren Unterhaltungsangeboten. Wer in diesem System agiert, wird an dessen Logik gemessen. Aber ethisch und moralisch erachte ich einen Sport für sehr viel wichtiger, der damit nichts zu tun hat. Die körperliche Betätigung mit sportivem Charakter von Kindern, Jugendlichen und Senioren ist überhaupt nicht an solchen Maßstäben ausgerichtet.
Die Kluft zwischen diesen Welten wird immer größer. Die Verbände müssten sie eigentlich überbrücken, aber sie schaffen es nicht. Das ist das Dilemma des Sports von heute.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 19. Oktober 2015