Robert Harting über Doping-Aufklärung - „Jetzt müssen wir nach Kenia und Jamaika“ - Michael Reinsch in der Frankfurter Alllgemeinen Zeitung ©Horst Milde
Harting über Doping-Aufklärung – „Jetzt müssen wir nach Kenia und Jamaika“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Alllgemeinen Zeitung
Leichtathletik-Funktionäre und die olympische Welt behaupten, vom systematischen Doping in Russland und von der Korruption an der Spitze des Leichtathletik-Verbandes IAAF hätten sie nichts geahnt. Sind Sie auch aus allen Wolken gefallen?
Nein, ich freue mich, dass der Sachverhalt aufgeklärt ist. Bisher hatten nur Journalisten das behauptet. Nun hat eine unabhängige Kommission die Beweise überprüft und festgestellt: Ist so. Ich glaube nicht, dass Funktionäre wirklich überrascht sind. Die wissen doch alle, wie es läuft, und genauso wussten alle in der IAAF, dass Lamine Diack kein Engel war.
Und jetzt?
Wir haben das mit Russland geklärt, jetzt müssen wir nach Kenia und Jamaika und die gleiche Untersuchung anstellen. Das sind richtige Problemfälle in der Leichtathletik.
Wissen Sie mehr dadurch, dass Sie dichter dran sind?
Klar. Alle meine Kolleginnen und Kollegen hier wissen, wie sich ein Körper an der Leistungsgrenze anfühlt. Wir wissen, wie das ist, wenn man von jemandem besiegt wird, der im entscheidenden Moment ein, zwei Ticks besser ist als man selbst. Das kann man akzeptieren. Wir sind alle Profis, wir sind alle austrainiert, und wir pfeifen alle auf dem letzten Loch. Wir haben, ich sage mal: Sport-Intelligenz. Wir merken, wenn jemand Leistungen bringt, die nicht sein können. Wir sind nicht überrascht.
Aber froh?
Ja. Wie oft habe ich mit diesem Gabriel Dollé telefoniert, um ihn zu fragen, ob bestimmte Medikamente okay sind oder nicht. Er hat mir nie klare Antworten gegeben zu Nasentropfen und Haarwaschmitteln. Er hat mir allerdings schriftlich gegeben, dass ich keinerlei Rechte hätte und sie alles dürften. Und jetzt stehen er und sein Präsident, Lamine Diack, Leute, die uns Athleten entmündigt haben, bald vor Gericht, weil sie Geld genommen haben. Das ist grotesk.
Hatten Sie je davon gehört, dass man sich bei der Familie Diack freikaufen konnte von einer Doping-Sperre?
Nichts von dem, was jetzt rauskommt, überrascht mich. Aber natürlich wusste ich nichts Konkretes. Vielleicht sollte es ein neuer Ansatz der Doping-Bekämpfung werden, dass man proaktiv Sportler in solche Zirkel einschleust, um sie zu entlarven. Mit einer Kronzeugenregelung, wie sie im neuen Anti-Doping-Gesetz fehlt, wäre man auf der sicheren Seite.
Sie meinen, in mafiösen Strukturen bedürfe es verdeckter Ermittlungen?
Wie im kriminellen Milieu wäre es ein Problem, solchen Athleten Schutz zu gewähren. Julia Stepanowa und ihr Mann Witalij haben Moskau verlassen, weil sie Angst hatten, nachdem sie in dem ARD-Film ausgesagt hatten. Sie leben an der Armutsgrenze, weil sie niemand unterstützt. Sie haben den Fair-Play-Preis verdient – und zwar mit einer höheren Dotierung, als Julia an Prämien gewinnen könnte, wenn sie dopte. Das wäre ein Signal: Gutes tun bringt mehr als Schlechtes tun.
Wie sehen Sie die Rolle von Sebastian Coe, dem neuen Präsidenten?
Er müsste erleichtert sein. Er hat eine Superausgangslage für seine Präsidentschaft. Aus den Gerüchten, dass Korruption herrschte, ist Gewissheit geworden. Er muss demonstrieren, dass sich etwas ändert, dass es ihm und dem Verband um saubere Athleten geht.
Ist der Zeitpunkt gekommen, dass die Welt-Anti-Doping-Agentur, die Wada, ihre Arbeit grundsätzlich reformiert und Tests – wie Sie das schon lange fordern – Kontrolleuren und Analytikern aus jeweils anderen Ländern überträgt?
Bei den Russen muss man sowieso den Anfang machen. Dem Labor und der Nationalen-Anti-Doping-Agentur sollen die Akkreditierung entzogen werden, also müssen Kontrolleure von außen rein. Ich habe vor Jahren einen Anti-Doping-Fonds vorgeschlagen, der dies organisiert. Mehrere Länder würden Kontroll-Ringe bilden, in denen jeweils der eine den anderen testet. Dies würde Korruption auch dadurch unterbinden, dass die Konstellation regelmäßig wechselt und dass die Menschen aus verschiedenen Kulturen unterschiedliche moralische Maßstäbe haben und sich nicht praktisch augenzwinkernd verstehen. Wenn ein kenianischer Marathonläufer – nur als Beispiel – behauptet, er müsse mit allen Mitteln siegen, um die hungernden Kinder seiner achtzigköpfigen Familie versorgen zu können, dann sagt womöglich ein Landsmann: Hast recht, geht mir genauso. Jemand aus einem anderen Kulturkreis würde sagen: Mag sein, aber Sport funktioniert nur unter gleichen Voraussetzungen. Armut ist ein Grund für Doping, man verdient ja nicht schlecht in der Leichtathletik. Auch deshalb sind Kenia und Jamaika Brennpunkte. Unterschiedliche moralische Vorstellungen, verschiedene Perspektiven auf den Sport könnten Komplizenschaft verhindern.
Hätten Sie dafür votiert, die russischen Leichtathleten von den Olympischen Spielen auszuschließen?
Ich hätte. Zum einen muss man Machtzentren zerschlagen; für Putin wäre das höchst peinlich. Zum anderen kann man von Athleten verlangen, dass sie sich für einen fairen Wettstreit einsetzen und nicht blind hinter einer Flagge herlaufen.
Was müssen Verbände lernen?
Wenn ein Land den Euro einführen will, muss es bestimmte wirtschaftliche und finanzpolitische Voraussetzungen erfüllen. Im Sport kann jeder Verband behaupten, dass er die Regeln beachte, und schon darf er mitmachen. Nach dem Bericht der Wada-Kommission müssen jetzt auch andere Sportarten und andere Länder auf den Prüfstand.
Ist eine Kollektivstrafe wie der Ausschluss des russischen Verbandes zu rechtfertigen beim Blick auf einzelne Athleten, die nicht mitgemacht haben?
Natürlich wäre das ungerecht. Aber vielleicht zwingt eine solche Entscheidung saubere Athleten dazu, sich zusammenzutun und gegen den eigenen Verband aufzustehen. Außerdem würde eine solche Strafe signalisieren, dass für Großorganisationen wie die IAAF und das IOC noch Werte gelten, was ja durchaus in Zweifel zu ziehen ist.
Gibt es ein Maß der Verkommenheit, bei dem Sie sagen würden: Es reicht, Olympia in Rio soll ohne mich stattfinden?
Vor anderthalb Jahren hätte ich vielleicht anders geantwortet. Aber jetzt bin ich positiv drauf und freue mich darauf, bald wieder an Wettkämpfen teilnehmen zu können. Andere Länder haben investiert, sie haben sich aber auch ideologisiert. Wir in Deutschland sollten enger zusammenrücken, Unternehmen, Sportler, Medien. Es wird Zeit, die Leistungen derjenigen, die so oft betrogen wurden, von Markus Esser, André Höhne und Robin Schembera, zu würdigen. Wir sollten nicht lamentieren und die Sperre anderer fordern, sondern stolz sein auf die saubere Leistung unserer Leute. Wir sollten der Liebe zum Sport nachgeben und nicht nur eine Liebe des Erfolges pflegen. Ich habe das Gefühl, uns ist die Leidenschaft abhandengekommen.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 16. November 2015