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2016

2014 IAAF World Junior Championships Eugene, Oregon July22-27, 2014 Photo: Andrew McClanahan@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

Wada-Ermittler Younger: „Kein Sportfunktionär steht über dem Gesetz“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

„Kein Sportfunktionär steht über dem Gesetz“ – Wada-Ermittler Günter Younger im Interview:

Sie sind Kriminaldirektor im Landeskriminalamt von Bayern und waren als Ermittler in der Unabhängigen Kommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) daran beteiligt, das systematische Doping in der russischen Leichtathletik und Korruption an der Spitze des Welt-Leichtathletikverbandes IAAF aufzudecken – die berühmte Spitze des Eisberges.

Was empfehlen Sie dem Sport?

Jede größere Firma hat einen Compliance-Beauftragten. Sie muss interne Ermittlungen betreiben können. Das brauchen die großen Verbände auch. Wir plädieren darüber hinaus dafür, dass eine internationale Einheit gegründet wird, die wie wir ohne Rücksicht auf Titel und Rang überall überprüfen kann, ob die Regeln eingehalten werden. Wenn einer sagt: Ich bin Präsident, für mich gelten die Regeln nicht, wird’s für alle anderen schwierig. Dazu kommt: In der Doping-Bekämpfung wird fast allein auf Wissenschaft gesetzt, auf Tests und Analyse. Der menschliche Faktor wird zu wenig berücksichtigt.

Sie meinen die Anfälligkeit zum Betrug, die Bereitschaft, sich korrumpieren zu lassen?

Um in diesem Bereich etwas zu erreichen, muss man Gespräche mit Trainern und Athleten führen. Das ist sehr aufwendig, aber notwendig. Tests spiegeln nicht wider, was tatsächlich passiert. Man muss zuhören, was unter Athleten und unter Trainern geredet wird. Wenn jahrelang über ein bestimmtes Thema gemunkelt wird, muss sich mal jemand einen eigenen Eindruck machen.

Soll der Sport zusätzlich zu Doping-Kontrolleuren auch Sport-Detektive beschäftigen?

Wir halten das für notwendig. Das Feld ist sehr komplex. Doping hat bei der Polizei in den verschiedenen Ländern nicht gerade Priorität. Wir haben festgestellt, dass die Anbindung an die Wada gut funktioniert hat. Dort gibt es eine etablierte Kooperation mit Interpol.

Die Unabhängige Kommission mit Ihnen und den Juristen Richard McLaren sowie dem Wada-Gründungspräsidenten Richard Pound hat diese Verbindung genutzt. Ist Ihnen das schwergefallen?

Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatten wir so viele Beweise zusammengetragen, dass ich überzeugt war, dass dies einen Anfangsverdacht begründet. Wir standen vor der Frage: Veröffentlichen wir das wie verabredet? Unsere Meinung war: Dann wird zwar jeder entsetzt sein, dann wird das vier Wochen lang diskutiert, aber es wird außer einer Sperre keine Konsequenzen haben. Wenn ein Sportfunktionär Straftaten begeht…

Wir sprechen von Lamine Diack, sechzehn Jahre lang Präsident der IAAF, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees und hoc verdächtig, dopende Athleten um hohe Summen erpresst und ihre Sperren verhindert zu haben…

Der Name war nach seiner Festnahme in der Presse. Es konnte nicht sein, dass der Staatsanwalt sich mit so jemandem nicht beschäftigt. Kein Sportfunktionär steht über dem Gesetz. Wenn wir auf kriminelles Verhalten stoßen, das ist meine Überzeugung, müssen wir davon eine Strafverfolgungsbehörde informieren, damit sie weiter ermittelt. Ich will, dass Herr Diack und wer sonst noch alles angeklagt werden wird, genauso vor Gericht steht wie jeder andere auch.

Deshalb ist ein bedeutender Teil Ihres Reports noch nicht veröffentlicht.

Madame Houlette, die oberste Staatsanwältin von Frankreich, hat uns gebeten, als sie die Ermittlungen übernahm, diesen Teil des Berichtes zurückzuhalten. Das Verfahren soll nicht gefährdet werden. Ich bin zu sehr Polizist, um die Veröffentlichung für wichtiger zu halten als den Beweis, dass niemand über dem Gesetz steht, auch nicht Sportfunktionäre.

Der Fall ist komplex: Staatsbürger aus Senegal, die in Monte Carlo leben, erpressen Athleten in Russland; die Spur des Geldes führt nach Singapur.

Ich weiß, wie Justiz arbeitet und was man zusammentragen muss, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Unsere Ermittlungsgruppe war klein, aber wir hatten den Vorteil, dass es für uns keine Grenzen gab. Wir konnten in Singapur ermitteln, wir konnten mit Interpol zusammenarbeiten, wir konnten Beweise beibringen, die hilfreich für die Franzosen sind. Mitte Juli lieferten wir den Bericht. Zwei, drei Monate später sind die Durchsuchungen und Festnahmen erfolgt. Das ist für einen Fall dieser Größe und dieser Tragweite sehr schnell.

So sollte es weitergehen?

Unsere Arbeit ist eigentlich ein Musterbeispiel. Die Gruppe ermittelt, und sobald sie Ergebnisse hat, tritt sie an Interpol heran mit der Bitte, bei der Suche nach den entsprechenden Strafverfolgungsbehörden zu helfen. Das erfordert eine hohe Qualität der Arbeit. Polizei und Staatsanwaltschaft müssen überzeugt werden, Verfahren einzuleiten. Aufwendige Ermittlungen sollte man ihnen ersparen.

In Ihrem Bericht steht sinngemäß, dass es in anderen Sportarten und anderen Ländern genauso aussehen dürfte wie in der russischen Leichtathletik. Ist das die Aufforderung, Ihre Arbeit als Blaupause für weitere Ermittlungen zu nutzen?

Der Chef-Ermittler der Wada, Jack Robertson, ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Er widmet seine Zeit, praktisch sein Leben dem Kampf gegen Doping. Aber er ist allein. Von all den Hinweisen und Indizien, all den Gesprächsangeboten, die ihn erreichen, ist er völlig überfordert. Ich bin überzeugt, dass in naher Zukunft eine solche Einheit, wie wir sie gebildet haben, dauerhaft eingerichtet wird. Sie muss sich einen Eindruck verschaffen von solchen Beschuldigungen, wie sie etwa die ARD auch gegen Kenia erhebt.

Wada-Präsident Craig Reedie sagt, er werde jetzt nicht sofort der Forderung nachgeben, solche Ermittlungen auch in Kenia und Jamaika zu beginnen.

Er wird nicht gleich die nächste Ermittlungsgruppe losschicken, nur weil jemand mit dem Finger zeigt. Aber wenn Experten die Vorwürfe plausibel finden, wenn sie ein Einsatz-Konzept entwerfen und mit der Staatsanwaltschaft verabreden: Unterschreiben Sie hier, und wir liefern die hieb- und stichfeste Ermittlung, dann ist so etwas realisierbar.

Aber die Wada konnte nicht einmal etwas mit der Kronzeugin Julia Stepanowa und ihrem Mann Witalij anfangen, als diese sich aus Russland mit Beweisen für systematisches Doping meldeten.

Für Whistleblower braucht die Wada eine Plattform. Sie braucht Experten, die mit den Vorwürfen umgehen können und auch im Hinblick auf Schutz und Hilfe für die Kronzeugen wissen, was realistisch ist und was nicht. Sie könnten ein Netz von Informanten aufbauen und feststellen, dass, zum Beispiel, die Hinweise auf ein bestimmtes Land sich verdichten. Dann würden sie ihre Ermittlungsgruppe darauf aufmerksam machen und mit dem ausstatten, was sie wissen.

Viele Verbände, allen voran die Leichtathleten, wollen ihre Doping-Kontrollen und das Management der Sanktionen outsourcen. Vor dem Hintergrund, dass Wada-Präsident Reedie während Ihrer Ermittlungen dem russischen Sportminister Mutko hat ausrichten lassen, dass kein Doping-Fall so schlimm sei, dass er ihre Freundschaft belaste: Halten Sie die Wada für geeignet?

Ich glaube, dass die Wada die richtige Einrichtung dafür ist, denn sie ist unabhängig. Ich schätze David Howman sehr, den bisherigen Generalsekretär, ebenso Olivier Niggli, seinen Nachfolger. Ihnen sind allerdings finanziell die Hände gebunden.

Ihr unabhängiger Report soll eine Million Dollar gekostet haben. Lässt sich solch ein Einsatz wiederholen?

Zwischen Erwartungen und Möglichkeiten herrscht ein Missverhältnis. Das muss ausgeglichen werden. Allerdings braucht die Wada, um künftig etwas bewegen zu können, nicht nur mehr Geld, sondern auch die richtigen Leute.

Wie stellen Sie sich die Qualifikation vor für den Phil Marlow des Sports?

Die Kunst wird sein, Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten zu finden, die alle international ermitteln können. Man braucht einen Analysten, man braucht jemanden, der Ermittlungen koordinieren kann; in unserem Fall haben wir uns mit etwa zehn Komplexen gleichzeitig befasst. Und man braucht selbstverständlich Ermittler, die empathisch sind, die Gespräche führen können und merken, ob jemand lügt, ob jemand übertreibt, ob jemand Schutzbehauptungen aufstellt. Erfahrung wird ein wichtiger Faktor sein.

Haben Sie keine Zweifel an der Unabhängigkeit der Wada, da doch Russland einer ihrer Großaktionäre ist?

Hauptaktionär ist das IOC; es zahlt fünfzig Prozent des Budgets. Die andere Hälfte zahlen Staaten. Durch diese Konstruktion sollte die Wada unabhängig bleiben können. Das steht nun glücklicherweise nicht zu erwarten, aber: Wie würde sie reagieren, wenn Russland seine Zahlung einstellte? Die Finanziers dürfen keinerlei Einfluss auf die Ermittlungen und Verfahren der Wada haben. Sie sollte, wie Interpol, einmal im Jahr einer Generalversammlung darlegen, welche Ermittlungen sie geführt hat.

Was halten Sie von Reedies E-Mail?

Von mir aus sollen er und Herr Mutko Freunde sein. Es geht ja nicht darum, Russland zu verdammen. Herr Pound hat die Leichtathletik und die Doping-Kontroll-Systeme dort als kranken Patienten beschrieben. Wenn Sie krank sind, wollen Sie nicht vor die Tür gestellt werden, sondern sie brauchen Hilfe. Es geht schon auch darum, ein Exempel zu statuieren. Uns hat überrascht, dass Russland aus dem Leichtathletik-Weltverband ausgeschlossen worden ist. Aber man kann ein System nicht mit Sanktionierungen ändern, das geht nur miteinander.

Schreit Ihr Bericht nicht: Strafe muss sein?

Wir sind in der Tat ein bisschen stolz darauf, dass wir etwas bewegt haben. Wie oft hatten wir gehört, dass nichts passieren würde. Und es ist schon so viel passiert. Wir haben, über Strafe hinaus, etwas ausgelöst, von dem wir uns Veränderungen im Sport erhoffen.

Bekommen Sie nicht Zweifel an der Ernsthaftigkeit im Umgang mit diesem Fall, wenn das Nationale Olympische Komitee von Russland zum Sachwalter der Erneuerung des russischen Sports wird? Ist man sich hinter den Kulissen nicht längst einig, dass die russischen Leichtathleten bei den Olympischen Spielen von Rio im nächsten Jahr wieder dabei sein sollen?

Ich weiß nicht, wie harmonisch die Gespräche sind. Ich weiß, dass der Druck durch unseren Bericht nicht schlecht ist. Ihn kann man nicht vom Tisch kehren. Andererseits sollten die Gespräche konstruktiv verlaufen, man muss ja Lösungen finden. Wenn man alle Leute, die Verantwortung tragen, auf einen Schlag ablöste, würde ein Vakuum entstehen. Das wäre nicht gut. Um langfristig Änderungen durchzusetzen, muss man am Anfang vielleicht mit ein paar Kompromissen leben. In ein, zwei Jahren kann man beurteilen, ob sich wirklich etwas getan hat.

Hat der russische Verband Sie unterstützt oder behindert?

Prag ist ein gutes Beispiel. Dort haben wir bei der Hallen-Europameisterschaft versucht, mit zwei Läuferinnen ins Gespräch zu kommen. Damit das nicht so auffällt, sprachen wir sie im Bereich der Doping-Kontrolle an. Die eine, Frau Bazdirewa, hat, als wir uns vorstellten, das Schreien angefangen, hat sich Augen und Ohren zugehalten und gerufen: „Ich will nicht mit Ihnen reden, ich sehe Sie gar nicht!“ Dann ist sie rausgelaufen. Wir waren fassungslos. Frau Poistogowa hat zunächst mit uns gesprochen. Sie wurde immer blasser, als wir ihr vorgehalten haben, was sie über Doping gesagt hat auf den Aufnahmen von Julia Stepanowa…

… der Kronzeugin, die mit Wada und ARD zusammengearbeitet hat.

Als sie ihre Probe gegeben und mit ihrem Mannschaftsarzt gesprochen hatte, verschwand sie grußlos. Nach dem Geschrei der anderen kamen Herr Borsakowski, der Trainer der Russen, und deren Präsident Zelichenok. Sie haben gesagt, dass die Athleten dort seien, um Medaillen zu gewinnen, und nicht, um mit uns zu sprechen. Wir sollten bitte nach Russland kommen. Sie würden die Treffen organisieren. „Mit allem Respekt“, habe ich gesagt, „wenn ich mit Frau Bazdirewa oder Poistogowa sprechen will, frage ich nicht Sie, sondern die Athletinnen und um Erlaubnis.“ Die Zusammenarbeit wurde nicht sehr gefördert vom Verband.

Standen Ihnen alle zur Verfügung, die Sie sprechen wollten?

Als die Russen nach den ersten Vorwürfen öffentlich behaupteten, dies sei alles Propaganda und Lüge, hatte ich erwartet, dass sie positiv auf unser Gesprächsangebot reagieren würden und sagen: Das wollen wir bereinigt haben, unser Ruf steht auf dem Spiel. Wir mussten allerdings feststellen, dass rund neunzig Prozent der Athleten und Trainer, die wir vernehmen wollten, absagten oder nicht reagierten.

Sie haben mit rund fünfzig Personen sprechen wollen. Fünf sind es geworden?

35 haben abgesagt. Selbst bei einigen von denen, die bereit waren, gab es komisches Verhalten. Einer wollte die Fragen vorab. Als wir mit der Frau Petscharina geskypt haben…

… der gesperrten Kugelstoßerin, die in dem Film der ARD sagt, 99 Prozent ihrer Konkurrentinnen seien gedopt…

… war sie völlig nervös. Man musste nicht Polizist sein, um festzustellen, dass jemand mit im Raum war und das Interview nicht freiwillig stattfand.

Ist das nicht eine dürftige Basis: weniger als eine Handvoll Athleten?

Es gab vorher einige, die mit uns gesprochen haben; wir haben etwa 25 Interviews geführt. Diese fünfzig hatten wir ausgesucht, weil wir den Eindruck hatten, da stimmt was nicht.

Konnten Sie als Ermittler der Wada Athleten nicht direkt ansprechen?

Wenn wir nicht sicher waren, dass wir die richtige E-Mail-Adresse oder Telefonnummer hatten, haben wir es über Adams versucht, das System der Wada, in dem ständig der Aufenthaltsort der Sportlerinnen und Sportler angegeben sein soll. Einige Angaben waren sehr spärlich. Bei manchen waren die Telefonnummern der Trainer angegeben. Was für einen Sinn hat ein solches System, wenn es keinen direkten Kontakt ermöglicht?

Haben Sie Athleten auf frischer Tat ertappt?

Wir haben Doping-Kontrolleure in Trainingszentren geschickt, etwa nach Adler oder Saransk, wenn wir Hinweise hatten, dass dort etwas passiert. Als sie dort auftauchten, waren alle völlig überrascht, in dem Sinne: Wieso seid ihr jetzt hier? Sonst werden Kontrollen doch immer angekündigt. Das war manchmal filmreif. Die Kontrolleure fragen im Hotel nach den Athleten, und an der Rezeption heißt es: Ja, sind alle hier. Dann kommen die Trainer und sagen: Nein, die sind nicht hier.

Die Kontrolleure erkennen einen Athleten; der setzt sich gleich eine Sonnenbrille auf und ist raus die Straße runter. Er sei Tourist, sagt er noch, mit Sport habe er nichts zu tun. Das war natürlich schwierig für unsere Leute, einem austrainierten Sportler auf den Fersen zu bleiben, der wegläuft. Als sie in Zimmer gekommen sind, haben sie manchmal noch die Nadeln gesehen, die Athleten unters Bett zu schieben versuchten. Wenn man einen solchen Bericht liest, denkt man, der Kontrolleur übertreibt. Wenn man zwei, drei solcher Protokolle auf dem Tisch hat, weiß man, da ist etwas faul.

Die Russen wussten, dass Sie und Ihre Kommission ermitteln, und haben trotzdem weitergemacht?

Das war fast schon beleidigend. Wir haben ja nicht verdeckt operiert. Die Doper schienen es gewohnt zu sein, jedenfalls zu erwarten, dass die Ermittlungen nicht seriös geführt werden. Ein Krimineller würde, wenn er von Ermittlungen erfahren würde, sofort alle Beweise beiseite bringen. Es war überraschend, wie einfach sie uns das Ermitteln und das Beweisen gemacht haben. Von Athleten und von einzelnen Zeugen war auch der Wunsch ganz deutlich: Bitte tut was!

Die berühmtesten und berüchtigsten Doper Russlands waren die Geher aus Saransk mit ihrem Trainer Viktor Tschegin. Haben Sie die kennengelernt?

Wir haben auch mit Herrn Tschegin gesprochen. Sein Auftreten hat signalisiert, dass er sich als Heroe versteht. Wir konnten das Interview schnell beenden, weil er in keiner Weise bereit war, zu kooperieren. Andererseits war das Doping in seinem Leistungszentrum so offensichtlich, dass es gar nicht mehr abzustreiten war. Einer unserer Kontrolleure ist dort aus dem Fenster seines Hotels gestiegen, weil er befürchtete, dass ihm Polizisten, die ihn begleiteten, die Proben abnehmen würden.

Glauben Sie, dass sich bis nächsten Sommer etwas ändert?

Wenn sich eine solche Kultur über Jahrzehnte entwickelt hat, ist das schwer. Mitarbeiter des Ministeriums sagten uns, dass sie angegriffen werden, weil sie genau das versuchen. Es war auffällig, dass Tschegin im März noch unantastbar war, und drei, vier Monate später kollabiert alles. Innerhalb von zwei Jahren sind 19 russische Geher durch ihre Blutpässe aufgeflogen. Bei der WM in Peking war kein einziger russischer Geher am Start.

Sie sehen den Willen zur Veränderung?

Als wir Sportminister Mutko getroffen haben, versprach er, das umzusetzen, was wir empfehlen würden. Jetzt kann er zeigen, dass er das ernst meint.

Das klingt, als hätte sich der Sport verselbständigt in Russland.

Selbst wenn er einen Trainer feuern wollte, sagt Herr Mutko, sei das nicht gegangen. Das war nur dem Verband möglich. Das Ministerium hat zwar die Anti-Doping-Agentur und das Labor finanziert, aber die Interna des Verbandes lagen außerhalb des Einflusses von Herrn Mutko. Eine unserer Empfehlungen ist deshalb, dass das Ministerium mehr Macht bekommt.

Aber war Mutko wenn schon nicht Mittäter, nicht doch Mitwisser?

Wenn man so ein System hat, weiß man das. Es zu bekämpfen ist sicher nicht leicht. Jetzt hat Russland die Chance.

Die Goldmedaillen, auch die der Geher, waren Putin sehr recht, um die Überlegenheit Russlands zu beweisen. Mutko nennt Ihren Bericht Propaganda und die Kronzeugen Vaterlandsverräter.

Das gehört vermutlich dazu. Entscheidend ist nicht, was er sagt, sondern was er tut. Daran wird er gemessen.

Verstehen Sie die dopenden Athleten als Täter oder als Opfer?

Wenn ich sehe, wie leidenschaftlich sie ihren Sport in Russland ausüben – Olympia ist der Traum ihres Lebens – verstehe ich, dass sie bereit sind, in ihrem System mitzuspielen. Da heißt es: Entweder du machst mit, oder du bist draußen. Einerseits sind sie Opfer. Andererseits ist das Schicksal selbstgewählt. Es ist ja niemand im Schlaf gedopt worden. Unter den besonderen Umständen in Russland haben sie sich dafür entschieden, mitzumachen.

Werden Sie sich die Spiele von Rio im nächsten Jahr anschauen wollen?

Für Olympia hätte ich einen großen Wunsch: dass Julia Stepanowa unter der olympischen Flagge starten darf. Sie und ihr Mann Witalij haben alles aufs Spiel gesetzt, ihre Familie, ihre Karrieren, um etwas zu verändern. Das war von allem, was ich erlebt habe, das Beeindruckendste.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 10. Januar 2016

author: GRR

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