Russlands Leichtathletik versinkt im Doping-Sumpf. Ob Athleten wie Sergej Litwinow bei Olympia starten dürfen, ist fraglich. Im Interview spricht der Hammerwerfer über seinen Selbstversuch mit Meldonium – und sieben Monate ohne Doping-Kontrolle.
Hammerwerfer Sergej Litwinow: „Bei uns ist es wie in der DDR“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Sie trainieren täglich. Für Rio?
Ich habe die Hoffnung, dass ich zu den Olympischen Spielen in diesem Jahr komme. Aber ich bin zwiegespalten. Ich verstehe, warum wir in dieser Situation sind und warum Sie so fragen.
Die russischen Leichtathleten sind wegen systematischen Dopings von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen. Spätestens im Juni wird der Weltverband IAAF entscheiden, ob sie zugelassen werden oder nicht. Was macht Sie optimistisch?
Wir haben wirklich Leute, die sauber sind. Es wäre unfair, wenn sie nicht fahren dürften. In der Berichterstattung ist nur von Skandal, Skandal, Skandal die Rede. Man muss den Eindruck bekommen, dass es in Russland nur Doper gibt. Doping ist ein großes Problem, das stimmt. Aber nicht alle sind Doper.
Erkennen Sie in den Fernsehreportagen und den Berichten der unabhängigen Untersuchungskommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) Ihren Sport?
Es ist schockierend. Von den vielen Einzelheiten in dem Bericht habe ich eine selbst miterlebt hier im Trainingslager in Adler bei Sotschi. Ich habe gemerkt, wie auf einmal alle nervös und aufgeregt waren. Ein halbes Jahr später habe ich über die Flucht von Athleten aus dem Hotel gelesen.
Die Trainer behaupteten gegenüber dem Kontrolleur, dass die Sportler nicht im Hotel seien, während sich diese aus dem Staub machten …
Schon nach dem ersten Film des deutschen Fernsehens hatte mein Vater …
…Hammerwurf-Olympiasieger und Weltmeister Sergej Litwinow, Ihr Trainer …
…gesagt: Unsere Gruppe hat nichts zu verbergen. Seid im Trainingslager immer erreichbar! Die Kontrolle in Adler war ja keine Adams-Kontrolle, bei der bestimmte Athleten zu einem bestimmten Zeitpunkt angetroffen werden müssen. Die wollten mal gucken, wen sie antreffen. Wir wussten, dass nun alles viel strenger sein würde als zuvor. Ich fand erstaunlich, dass die anderen Athleten und Trainer davon überrascht waren. Wenn so viel passiert, muss man doch klüger werden daraus. Keine Ahnung, ob das Dreistigkeit oder Dummheit war.
Gibt es eine russische Leichtathletik vor der Sperre und eine andere danach?
Auf alle Fälle. Auf den Film hatten sie hier nicht wirklich reagiert. Aber der Bericht der Wada-Kommission hat sehr viel bewirkt. Jetzt kann man offen sagen: Das war falsch, und viele tauchen auf, die zustimmen. Die auch so gedacht haben. Die sagen: Wir müssen einen anderen Weg gehen. Was den Verband angeht: Das Personal ist flexibel. Es ist leicht, umzusteuern. Das funktioniert schon. Wenn jetzt was passierte, wären sie irre.
Aber es gab doch die Berichte über den gesperrten Trainer, der in der Provinz weiterarbeitet, über den Verbandstrainer, der weiterhin Doping-Mittel verkauft.
Das waren schwere Fehler. Aber ich bin mir sicher: Das war keine Absicht des Verbandes. Ich weiß ja, wie sie denken: Sie sind nicht gewohnt, so zu arbeiten, wie man es nun von ihnen verlangt.
Sie verteidigen den Verband? Dabei waren Sie schon lange kritisch.
Ich bin kritisch. Das ganze System war nicht mehr haltbar. Jetzt ist es besser. Es könnte noch besser sein. Aber es ist schon ein Plus.
Sie wurden vor dreißig Jahren in der Sowjetunion geboren und sind dann für Weißrussland gestartet. Bei der WM 2009 in Berlin wurden Sie als Deutscher die Nummer fünf im Hammerwerfen, bei der WM 2015 in Peking als Russe. Wo leben Sie?
Ich starte für Saransk, aber verbringe die meiste Zeit im Trainingslager. Seit Oktober bin ich hier in Sotschi und werde im Juni in die Nähe von Moskau gehen. In Saransk bin ich vielleicht einen Monat im Jahr.
Was für ein Geist herrscht dort? Über fünfzig Trainer und Athleten haben eine Petition für Viktor Tschegin unterschrieben, den Geher-Coach, auf dessen Konto mehr als zwanzig Doping-Fälle gehen und der lebenslang gesperrt wurde.
Das Zentrum dort ist aus ganz kleinen Ursprüngen entstanden. Sie hatten Erfolg, alles wurde immer größer, die Region hat das mit sehr viel Geld unterstützt. Das Geher-Zentrum ist riesig. Soviel ich weiß, trainieren dort vom Nachwuchs bis zur Spitze 1500 Geherinnen und Geher. In Mordowien, der Republik, deren Hauptstadt Saransk ist, ist Gehen derart popularisiert, dass es zum Sportunterricht der Schulen gehört. So wie Tschegin an der Spitze gedacht und agiert hat, wurde das bis unten durchgesetzt. Selbst Schulkinder haben sich daran ausgerichtet. Patriotismus, Loyalität – gerade im Sport ist es leicht, Menschen zu manipulieren. Jetzt geht es nicht mehr, dass man um jeden Preis Medaillen gewinnt …
Mit Epo, wie die Kontrollen all der Doper ergeben haben.
Ich meine darüber hinaus auch Dinge, die nicht verboten sind. Man muss sich fragen: Was darf der Sport verlangen, was will man ihm geben? Hier ging es so weit, dass die Sportler bereit waren zu sterben. Dabei kommen dann solche Petitionen heraus. Dieser Geist verschwindet nicht von allein. Es wäre schade, dieses Zentrum zu verlieren, das sollte man nicht zulassen. Aber man muss sich Mühe geben, es zu reformieren.
Wenn Sebastian Coe, der Präsident des Weltverbandes IAAF, Sie fragte, ob er die russische Leichtathletik für Rio zulassen soll oder nicht, was würden Sie ihm raten?
Ich bin fürs Zulassen – mit einem großen Aber. Die Reform der Leichtathletik in Russland wird lange dauern, aber sie kommt voran. Man darf uns nicht nur auf den Kopf schlagen, sondern man sollte uns helfen. So wie es in der DDR war, so ist es auch bei uns. Von einem Tag auf den anderen müssen sich alle neu orientieren. Das Wichtigste ist ein Doping-Kontrollsystem. Wenn wir nach Rio fahren wollen, müssen wir jetzt kontrolliert werden.
Das haben die Briten übernommen. Funktioniert es?
Für die Olympia-Kandidaten klappt es. Die IAAF hat dafür gesorgt, dass die Spitze kontrolliert wird. Aber wer nicht dazu gehört, unterliegt keinerlei Kontrolle.
Sie haben im Internet das Protokoll eines Tests veröffentlicht: Ihr erster seit August.
Ich war immer von der IAAF getestet worden, einmal im Monat, egal, wo ich war. Ich fand das gut, ich hatte das auch schon gefordert, als ich noch in Deutschland war. Im vergangenen Herbst hat die IAAF mich aus dem Pool gekickt.
Den russischen Meister und Fünften der Weltmeisterschaft?
Sie haben mir geschrieben, dass ich nicht mehr bei Adams angeben muss, wo ich gerade bin und kontrolliert werden kann. Theoretisch sollte ich bei der Rusada landen. Aber von der kam nichts.
Die russische Doping-Kontroll-Agentur ist seit November suspendiert.
Als das dann auch noch passierte, schrieb ich wieder an die IAAF. Sie antwortete, ich könnte Adams freiwillig ausfüllen; vielleicht würden sie kommen. Die Realität war: Ich wurde sieben Monate lang nicht kontrolliert. Bis Ende März war nichts.
Geht das auch den anderen in Ihrer Gruppe so?
Sie sind jung und gehören nicht zur Spitze. Kontrolliert werden nur die gut zweihundert Top-Athleten, die Olympia-Kandidaten sind.
An der Spitze läuft’s?
Seit Ende März werden wir von den Briten kontrolliert. Ich habe nie verstanden, warum das nicht generell das Prinzip internationaler Doping-Kontrollen ist: dass die Kontrolleure aus dem einen Land die Athleten aus einem anderen testen. Manipulationen wären viel schwieriger. Der wichtigste Effekt von Kontrollen ist die Abschreckung. Die Sportler sollen merken: Es geht nichts. Der Mensch ist fähig, zu lügen und zu betrügen, das liegt ihm im Blut.
Sind Sie von Briten getestet worden?
Zu mir kamen lettische Kontrolleure; sie sprechen russisch. Ich habe gehört, dass an anderen Orten auch Briten gewesen sein sollen. Das ist schon mal was anderes. Und es ist gut so.
Sollte nicht auch Russland Doper bestrafen?
Ich verfolge, was in Deutschland passiert, seit es das Gesetz gegen Doping gibt. Das ist sehr positiv. Früher konnte jemand sagen: Ich weiß nicht, wie die Substanz in meinen Körper gelangt ist. Jetzt kann die Polizei in der Wohnung nachschauen, ob dort Doping-Mittel zu finden sind. Meine Meinung ist: Nicht nur die Athleten sollten bestraft werden.
In Deutschland wird gegen Ringer ermittelt …
Meldonium.
Welche Erfahrung haben Sie mit dem Mittel?
Es ist seit dem 1. Januar 2016 Doping. Aber ich glaube nicht, dass es mit Steroiden und Epo zu vergleichen ist. Wir haben das Mittel hier immer von Ärzten bekommen. Bei mir lagen schließlich an die fünfzig Packungen unbenutzt herum, sie waren schon eingestaubt. Eigentlich nehme ich nichts als Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine und Proteine. Im August habe ich mir gesagt: Versuch’s mal. Ich habe zehn Tage lang einen Selbstversuch gemacht und es dann ein für alle Mal abgesetzt.
Hatte Meldonium einen Effekt?
Nein. Ich habe viel herumgefragt und glaube, dass selbst die Wirkung als Herzmittel zweifelhaft ist. Dabei wird es hier in Russland bei Herzproblemen verschrieben, und auf der Packung steht, dass es für Sportler bei schweren Belastungen angezeigt sei.
Was passiert, wenn die russischen Leichtathleten nicht zu den Sommerspielen in Rio reisen dürfen?
Ich vermute, dass die meisten Top-Athleten aufhören würden. Das wäre ein schwerer Schlag für unsere Leichtathletik. Die meisten fragen sich jetzt schon, wofür sie das alles auf sich nehmen. Ein Mädchen aus unserer Trainingsgruppe sieht ihr Kind nicht einmal jeden Monat. Wenn sie kein Ziel hat, macht sie Schluss.
Würden Sie mit Ihren dreißig Jahren weiter trainieren?
Ich bin es nicht anders gewohnt. Ich habe nie einen Wohnort gehabt, sondern lebe im Trainingslager. Ich bin keiner, der alles tut für Olympia. Wenn ich nicht nach Rio darf, wird mein Ziel die Weltmeisterschaft im nächsten Jahr sein. Ich finde es gut, dass das Doping aufgeflogen ist. Es wäre schade, wenn die Konsequenzen mich treffen würden.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 25. April 2016
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