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19
06
2016

2014 USA Outdoor Track & Field Championships Sacramento, CA February 26-29, 2014 Photo: Andrew McClanahan@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

Leichtathletin Lückenkemper – Am Rande der Weltspitze – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Gina Lückenkemper muss einfach zu den Olympischen Spielen. 22,67 Sekunden hat die Sprinterin der LG Olympia Dortmund am Wochenende in Regensburg für die 200 Meter gebraucht.

Das ist rasend schnell für eine Neunzehnjährige, selbst wenn sie Junioren-Europameisterin auf dieser Strecke ist. Innerhalb von acht Tagen hat sie sich damit zur schnellsten Deutschen gemacht.
 
Nur eine Woche zuvor war sie in Mannheim – mit einem Schrei im Ziel – die hundert Meter in 11,13 Sekunden gelaufen. „Ich liebe Läufe, in denen ich nicht vorneweg renne“, behauptet die 1,68 Meter große Sprinterin, „sondern anderen hinterherjagen muss.“

Das soll sie doch bitte schön im August in Rio de Janeiro tun, als Kurvenläuferin der deutschen Staffel und über 200 Meter. Auch noch über hundert Meter zu starten, für die sie auch qualifiziert ist, wäre allerdings zu viel verlangt von der jungen Sportlerin.
Reifeprüfung auf der Bahn

Im April hat Gina Lückenkemper die Klausuren für ihr Abitur geschrieben, nun folgt die Reifeprüfung auf der Bahn. „Sie ist am Rande der Weltspitze angekommen“, sagt ihr Trainer Uli Kunst. Deutsche Meisterschaft, Europameisterschaft, Olympia – vielleicht in diesem Jahr schon wird sie einen weiteren Schritt hin zur Exzellenz in ihrer Sportart tun.

Keine deutsche Sportlerin ist so schnell wie sie. Verena Sailer, mit der gemeinsam Gina Lückenkemper noch im vergangenen Jahr Fünfte der Weltmeisterschaft in der Staffel wurde, ist vor drei Jahren 11,03 Sekunden auf der Geraden gesprintet, eine glatte Zehntelsekunde schneller. Inzwischen ist sie zurückgetreten.

Auf der Lieblingsstrecke von Gina Lückenkemper, die aus der Kurve auf die Gerade führt, muss man schon bis 1999 und zu Andrea Philipp zurückgehen, um eine Bessere zu finden. Doch selbst deren 22,25 Sekunden wirken, als hätte die junge Westfälin sie in Reichweite. Kunst scheint sich auf die Zunge beißen zu müssen, um nicht die tollsten Prognosen abzugeben.

Ein außergewöhnliches Talent sei das Mädchen, verrät er, mit fünf Einheiten pro Woche trainiere sie bisher geradezu auf Sparflamme. „Sie ist noch lange nicht am Ende der Fahnenstange angekommen.“

Schon im Kindergarten ließ die kleine Gina im Wettkampf auf der Wiese Mädchen und Jungs hinter sich.

„Schnell war ich schon immer“, sagt sie. „Ich rede schnell, ich esse schnell.“ Manchmal fährt sie auch schnell Auto. Doch mit ihrem Tempo zu Fuß fiel sie auf, sagt sie, und sei richtig trainiert worden. „Jetzt bin ich noch schneller.“ Von Anatomie und Technik spricht sie, davon, dass sie ein sauberes Laufbild herausgebildet habe, den Schritt unter dem Körper treffe, nicht mehr allzu große Bremseinwirkungen im Bewegungsablauf habe und beim Start, statt zu trippeln, große Schritte mache.

Alles zusammen aber bewegt mehr als den Körper. „Rennen gibt mir ein Gefühl von Freiheit“, sagt sie. „Ich mache mir keine Gedanken, ich blase mir dabei einfach den Kopf frei.“ Nicht Erste zu werden, sei entscheidend, sondern Freude zu haben.

So erlebt es auch ihr Trainer. Die Psyche von Gina sei herausragend, sagt er. „Sie verfügt über die Fähigkeit, über den Spaßfaktor locker zu bleiben. Und im Sprint ist Lockerheit unabdingbar.“ Was bei anderen das Trainingslager in der Karibik besorgt – oder das Leben dort -, die Entspannung von Geist und Muskulatur, verschafft der blonden jungen Dame aus Soest in Westfalen die Sonne im Herzen.

Als während der U-20-Europameisterschaft in Eskilstuna in der schwedischen Provinz Södermanlands län der Startschuss zum Endlauf über 200 Meter auf sich warten ließ, nutzte sie Zeit und Stimmung für ein Tänzchen hinterm Startblock. Dann gewann sie. „Das sind Fähigkeiten, die kann man niemandem antrainieren“, sagt Kunst.

Man muss schon an einen sehr schnellen Jamaikaner denken, an Usain Bolt, um ein Beispiel für ähnliche Lockerheit am Start zu finden.

An große Ziele will Gina Lückenkemper noch nicht denken. „Sie wird sich entscheiden müssen: Will sie in die Weltspitze hinein?“ prognostiziert ihr Trainer, „Ist sie bereit, mehr in Training zu investieren.“ Doch da spricht er schon von der Perspektive Tokio 2020.

Sie denkt erst einmal nur acht Wochen weit: „Ich werde mit allem zufrieden sein. Ein Traum geht allein dadurch in Erfüllung, dass ich dort renne.“ Doping im Übrigen sei ein zu hoher Preis für jedes Ziel; nicht einmal Nahrungsergänzung, sagt der Trainer, spiele bei ihnen eine Rolle.

Bei ihren Konkurrentinnen aus der Karibik hat sich die Jamaikanerin im Herzen noch nicht bekanntgemacht. Klar, sie gucke schon mal rüber, was Shelly-Ann Fraser-Pryce macht, bevor sie bei der WM mit der Weltmeisterstaffel antritt. „Die Jamaikanerinnen machen die selben Aufwärmübungen wie wir“, hat sie beobachtet. „Aber sie wirken unnahbar.“

Um sie anzusprechen, ist sie noch zu schüchtern. Gina Lückenkemper wird sich wohl in vollem Lauf bekannt machen müssen.

Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 19. Juni 2016 

author: GRR

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