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14
07
2016

WILLI HOLDORF - Die Sensation in Tokio 1964 ©picture-alliance - dpa

OLYMPIA-HISTORIE: TOKIO 1964 – Die Sensation – WILLI HOLDORF – Henning Kuhl in Leichtathletik – Teil 3

By GRR 0

Noch 100 Meter. 100 Meter bis zur Sensation. 100 Meter bis zur Unsterblichkeit. 100 Meter bis zur totalen Erschöpfung. Willi Holdorf ist soeben auf die Zielgerade des 1.500-Meter-Laufs eingebogen, der Abschlussdisziplin des Zehnkampfes.

Und eben diese letzten 100 Meter werden darüber entscheiden, ob er Olympiasieger wird oder nicht. „Als ich aus der Kurve auf die Gerade gelaufen kam, sah ich, wie Rein Aun im Ziel die Arme hochriss“, erinnert sich der am 17. Februar 1940 in Blomesche Wildnis, Schleswig-Holstein, geborene Ex-Leichtathlet zurück.

Bis zu diesem Augenblick haben sich der Westdeutsche und sein Widersacher aus Estland, das damals noch der Sowjetunion angehörte, ein packendes Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert – und zwar völlig überraschend. „Ich zählte im Vorhinein überhaupt nicht zu den Favoriten“, gibt Holdorf zu und führt aus: „Aber der Wettbewerb lief ganz gut für mich. Über die 100 Meter und beim Kugelstoßen bin ich nicht an meine persönliche Bestleistung herangekommen, beim Hochsprung, im Diskuswurf und beim Speerwurf habe ich sie aber aufgestellt. Gleichzeitig habe ich mich in den anderen Disziplinen gut geschlagen.“

Speziell der Sprint beschäftigt den für Bayer 04 Leverkusen startenden Athleten jedoch: „Die 100 Meter in 10,7 Sekunden zu laufen war doch sehr enttäuschend, da meine Bestzeit deutlich besser war. Die Bahn war zwar durch den vielen Regen nass und das Wetter kalt, aber trotzdem. Und  als ich danach im Weitsprung nur einen gültigen Versuch (7,00 Meter, Anm. d. Red.) hatte, war ich schon ein wenig enttäuscht. Umso schöner und wichtiger, dass ich mich dann steigern konnte.“

Übrigens: Im Kugelstoßen (14,95 m) und Diskuswurf (46,05 m) war Holdorf besser als Ashton Eaton bei seinem Zehnkampf-Weltrekord 2015 (14,52 m und 43,34 m). Dass sich der Zehnkampf zu einem Zweikampf entwickelt, liegt auch am schwachen Auftritt der Top-Favoriten: „Ich dachte vor den Spielen, das Yang Chuan-Kwang Gold holen würde, aber er versagte beim Stabhochsprung und verlor damit alle Titelchancen.

Und der US-Amerikaner Paul Herman ließ ebenfalls Federn, so dass irgendwann nur noch Aun und ich übrig blieben“, so Holdorf.

Der Plan

Der Wettbewerb soll sich schließlich auf den letzten Stadionrunden entscheiden – und nichts spricht für den Deutschen. „Aun hatte in diesem Jahr über die 1.500 Meter eine Bestleistung von 4:17 Minuten, meine lag bei 4:52 Minuten.“

Willi Holdorf hat durch seine bisherigen Leistungen umgerechnet 18 Sekunden Vorsprung auf den Esten. 17 Sekunden dürfte er also später ins Ziel kommen und wäre immer noch Olympiasieger. Damit das klappt, hecken er und der zweite deutsche Starter, Hans-Joachim Walde, einen Plan für die letzte Disziplin aus: „Die Chance, dass ich Gold holen würde, war gering. Also haben Hans-Joachim und ich gesagt, dass wir ganz schnell loslaufen und dann das Tempo rausnehmen. So bremsen wir ihn aus, nachdem wir ihn anfangs müde machten.“

Gesagt, getan? Nicht ganz.

„Raun ging wie ein Pfeil an uns vorbei und hatte nach der ersten Runde schon rund 40 Meter Vorsprung“, erinnert sich Holdorf und fährt in typisch norddeutscher Art fort: „Da muss man natürlich die Nerven bewahren, und das ist mir gelungen. Ich habe Gott sei Dank nicht Vollgas gegeben, sondern bin kontrolliert weitergelaufen.“

Der Rückstand vergrößert sich, und so werden die letzten 100 Meter zu den entscheidenden. Es gilt, die letzten Körner rauszuholen und alle Energiereserven zu mobilisieren. Und als hätte Willi Holdorf geahnt, dass ein solcher Moment kommen würde hatte sich der zu diesem Zeitpunkt 24-Jährige speziell auf den Wettkampf vorbereitet:

„Sie können ja lachen, aber ich habe in den Wochen vor den Olympischen Spielen überall Energie gespart, wo es nur ging. Ich bin keinen Berg oder Anstieg hochgelaufen, sondern habe mich fahren lassen, um keine unnötige Energie zu verpulvern. Ich habe sogar die Eröffnungsfeier von der Tribüne aus verfolgt, weil es mir sonst zu anstrengend gewesen wäre.“

Und all das soll sich nun nicht voll und ganz auszahlen? Auf den buchstäblich letzten Metern soll der unverhofft greifbare Traum von der Goldmedaille platzen?

Die Schrecksekunde

Rund 9.335 Kilometer ist Willi Holdorf angereist, um dabei zu sein. „Uns ging es damals, wenn wir zu den Olympischen Spielen geflogen sind, in erster Linie um das Mitmachen. Natürlich wollten wir, wenn wir dann im Wettkampf spürten, dass es gut läuft, auch gewinnen. Aber in erster Linie zählte der olympische Gedanke: Dabei sein ist alles“, versichert der heute 76-Jährige. Und die Reise war natürlich längst nicht so reibungslos und angenehm wie heutzutage:

„Wir durften damals nicht über jedes Land fliegen. Als wir über uns über den Grenzen der Arktis befanden, sagte der Kapitän: ‚Links sehen sie den Nordpol.‘ Gut, dass wir nicht auf einem Schiff waren, denn alle Passagiere sind in diesem Moment an die Fenster auf der linken Seite gelaufen – und ein Schiff wäre da sicher gekentert“, lacht Holdorf.

Auch das Leben im Olympischen Dorf ist anders als heute. „Frauen und Männer lebten in unterschiedlichen Dörfern, und den Männern war es verboten, ins Frauendorf zu gehen. Umgekehrt allerdings nicht, was wir schon ungerecht fanden“, erinnert sich der Schleswig-Holsteiner und bedauert: „Sehr schade war, dass wir zu den Sportlern aus der DDR keinen Kontakt haben durften. Also, man konnte sich mit ihnen treffen und unterhalten, aber wenn das die Sicherheitskräfte mitbekamen, wurde man sofort getrennt und ermahnt. Das fand ich sehr schade.“

Während Rein Aun im Ziel um den Sieg zittert, zündet Willi Holdorf den Turbo. „,Mensch, das sind nur 100 Meter‘, habe ich mir gesagt und dann Vollgas gegeben.“ Und es reicht! Der Deutsche kommt elf Sekunden nach dem Esten ins Ziel und gewinnt Gold, die Sensation ist perfekt.

Es wird eine von insgesamt zehn deutschen Goldmedaillen in Tokio sein.

„Was für eine Leistung ich da vollbracht hatte, war mir in Japan noch gar nicht klar. Das habe ich irgendwie nicht mitbekommen. Erst als ich nach Deutschland zurückkam, spürte ich, dass ich etwas Spezielles geleistet hatte“, erinnert sich Holdorf. „Ich war aber natürlich froh, keine Frage.“

Vor lauter Glücksgefühlen wird der frischgebackene Olympiasieger sogar leichtsinnig: „Bei der Siegerehrung habe ich keine Schuhe getragen – damals gab’s noch keine Sponsoren, die einem Geld dafür bezahlten – und bin barfuß aufs Treppchen gesprungen. Da es aber geregnet hatte und das Treppchen feucht war, bin ich fast gestürzt und hätte mich beinahe übel verletzt. Da ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Da hatte ich ganz großes Glück. Und ob Sie es glauben oder nicht: Das ist der Moment, der mir von damals am meisten im Kopf geblieben ist.“ 

Doch nicht diese Schrecksekunde trübt Holdorfs Freude, sondern die anschließende Siegerehrung. „Wenn es etwas gibt, was ich wirklich bedaure, ist es die Musik. Da Westdeutschland und die DDR noch getrennt waren, wurde nicht die deutsche Nationalhymne gespielt, sondern Beethovens Ode an die Freude. Das war zwar ein sehr schöner Moment, und das Lied ist ja auch wirklich schön, aber ich hätte schon lieber die Nationalhymne gehört und mitgesungen. Darüber bin ich heute noch traurig“, verrät der Olympiasieger.

Das Geheimnis

Wenig später geht es zurück nach Deutschland. Der Empfang am Frankfurter Flughafen ist jedoch „längst nicht mit dem ganzen Aufwand und Interesse von heute zu vergleichen“. Doch Willi Holdorf kommt nicht zu kurz, die Delegation des TSV Bayer 04 Leverkusen fährt sofort von Frankfurt aus auf das Gelände des Vereins, wo ein großer Empfang gegeben wird.

„Das war eine sehr schöne Sache. Und ab diesem Moment habe ich auch langsam realisiert, was ich durch meinen Sieg in Japan erreicht hatte.“ Wenig später wird Holdorf zu Deutschlands „Sportler des Jahres“ gewählt, was er typisch norddeutsch kommentiert: „Da ärgert man sich natürlich nicht drüber, wenn man diese Auszeichnung erhält.“

Vor zwei Jahren, 2014, feiert er das 50-jährige Jubiläum seines großen Triumphes. „Ein Freund sagte mir, dass ich einen Geburtstag nicht feiern müsse, weil ich nichts für ihn könne. Aber der Olympiasieg sei meine Leistung, und deswegen solle ich ihn feiern“, begründet Holdorf und führt aus: „Ich habe also meine Freunde sowie ehemalige Athleten aus Leverkusen eingeladen und mit ihnen gefeiert, das war wirklich schön.“

Nur eine ist zum Fest nicht gekommen: Die Goldmedaille aus Tokio.

„Ich habe sie nicht mehr, sie hängt schon seit Jahren im Olympiamuseum in Köln. Der damalige Vorsitzende der Bayer-AG hat zu seinem Abschied die Medaille zwar nachbilden lassen, aber da ich habe es leider verpasst, ihn zu kontaktieren und darum zu bitten, dass er gleich zwei Kopien anfertigen lassen kann. Leider. Ich selbst habe daher keine Medaille.“

Ob sie ihm fehle? „Nein, ich lege nicht so viel Wert auf Medaillen oder Pokale. Das habe ich noch nie getan. So was finden Sie bei mir zu Hause auch nicht. Mir ist viel wichtiger, dass wir Zehnkämpfer uns alle zwei Jahre treffen – da sind dann übrigens auch DDR-Athleten dabei. Da haben wir immer viel Spaß.“

Dem Zehnkampf ist Willi Holdorf übrigens bis heute treu geblieben. „Die deutschen Athleten sind gut, haben eine tolles Niveau und bereiten mir viel Freude. Wir haben super Zehnkämpfer und ich freue mich jedes Mal, wenn ich sie in Ratingen sehe.“

Und wer weiß, vielleicht kommt einer der aktuellen oder künftigen Athleten der Bundesrepublik ja mal in eine ähnliche Situation, dass sich auf den letzten 100 Metern entscheidet, ob er Olympiasieger wird.

Willi Holdorf hatte übrigens ein großes Glück, von dem er erst im Nachhinein erfuhr: „Hinterher habe ich gesehen, dass es gar keine 100 Meter waren. Damals war die Bahn so konstruiert, dass man, wenn man aus der Kurve auf die Gerade einbog, nur noch 80 Meter zu laufen hatte. Das war für mich wirklich Gold wert.“

Henning Kuhl in Leichtathletik – Nr. 20 vom 11. Mai 2016

Die OLYMPIA-HISTORIE in "Leichtathletik": 

Eine Weltreise zu Bronze – Manfred Germar – Die Olympiaserie – Melbourne 1956 – Daniel Becker in Leichtathletik – Teil 1

OLYMPIA-HISTORIE ROM 1960 – Nicht „nur" dabei sein – ARMIN HARY – Kerstin Börß in Leichtathletik – Teil 2

 

author: GRR

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