Ehemaliger Athlet, aber dennoch von den Sportlern entfernt: IOC-Präsident Thomas Bach ©DOSB
Entscheidung des IOC Russisches Olympia-Team darf mit Einschränkungen nach Rio – Christoph Becker, Michael Reinsch und Evi Simeoni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Zu einem kompletten Bann Russlands konnten sich die führenden Olympier nicht entschließen.
Allerdings müssen die Athleten, die vom Russischen Olympischen Komitee (ROC) für die Spiele nominiert werden, eine Anti-Doping-Prüfung durch die Weltverbände ihrer Sportarten bestehen, deren Ergebnis einer Prüfung durch Schiedsrichter des Obersten Sportgerichtshofes (Cas) unterliegt.
Keine zwei Wochen vor der Eröffnung müssen die Föderationen also ein grundlegendes Programm zum individuellen Doping-Check auflegen; er soll auf den Resultaten internationaler Tests basieren. Russische Athleten, die jemals positiv auf Doping getestet wurden, sind keinesfalls zugelassen, auch wenn sie ihre Strafe verbüßt haben. Außerdem soll die Identität aller Sportler geklärt werden, von denen positive Tests unterschlagen wurden.
Umgekehrte Unschuldsvermutung
Das russische Sportsystem muss nicht die vollen Konsequenzen tragen aus dem systematischen und flächendeckenden Staats-Doping, das von 2011 bis 2015 mit krimineller Energie betrieben und vertuscht wurde und das in der Manipulation von mehr als hundert Doping-Proben bei den Winterspielen 2014 in Sotschi gipfelte. IOC-Präsident Thomas Bach erklärte in einer Telefon-Pressekonferenz, dass die russischen Sportlerinnen und Sportler kollektiv verantwortlich gemacht würden für die Manipulationen; die Unschuldsvermutung werde umgekehrt.
Zugleich aber respektiere das IOC, dass jedem einzelnen Athleten das Recht zustehe, angehört zu werden und seine Unschuld zu beweisen. „Am Ende des Tages muss man den betroffenen Athleten in die Augen schauen können“, sagte Bach. Die entscheidende Frage sei gewesen: „Wie weit kann man individuelle Athleten für das Scheitern, um das Mindeste zu sagen, für die Manipulationen verantwortlich machen?“ Es sei nicht darum gegangen, Erwartungen zu erfüllen, sondern saubere Athleten zu schützen.
Wie groß das russische Team in Rio sein wird, ist noch nicht abzuschätzen. Fest steht: Die 800-Meter-Läuferin Julija Stepanowa erhält keine Startgenehmigung.
Sie hatte gemeinsam mit ihrem Mann Witali als Informantin gegenüber der Welt-Anti-Doping-Agentur und westlichen Medien das Doping-System in der russischen Leichtathletik aufgedeckt. Da sie aus Russland geflohen ist, hat ihr der Leichtathletik-Verband den Status einer „neutralen Athletin“ verliehen. Diesen verweigert ihr das IOC auf den Rat der hauseigenen Ethik-Kommission hin. Julija Stepanowa genügte demnach nicht den ethischen Anforderungen an Athleten, die notwendig sind, um an den Spielen teilzunehmen.
Die Kommission bezog sich darauf, dass Stepanowa fünf Jahre lang Dopingmittel genommen hatte und sich erst zur Whistleblowerin wandelte, „nachdem das System sie nicht mehr länger schützte nach einem positiven Test, für den sie zum ersten Mal eine Doping-Strafe erhielt.“ Sie und ihr Mann seien als Besucher zu den Spielen eingeladen. Bach nannte dies eine Ermutigung für künftige Kronzeugen.
„Die Entscheidung, ihr die Teilnahme an den Spielen zu verweigern, ist unverständlich und wird zweifellos Whistleblowers in der Zukunft davon abschrecken, sich zu melden“, kommentierte Travis Tygart, der CEO der amerikanischen Anti-Doping-Agentur. Er kritisierte die Einbindung von Verbänden in die Entscheidung über die Startberechtigung einzelner Athleten als grellen Interessenskonflikt.
„Enttäuschenderweise hat das IOC im wichtigsten Moment für saubere Athleten und die Integrität der Olympischen Spiele sich geweigert, entschiedene Führung zu zeigen“, schreibt Tygart auf Twitter. „Die Entscheidung über die russische Teilnahme und das verwirrende Durcheinander in seiner Folge ist ein schwerer Schlag für die Rechte sauberer Athleten.“
Das IOC legte fest, dass die Tatsache, dass ein Athlet in Russland niemals positiv getestet wurde, nicht für eine Nominierung ausreiche; die russischen Verbände berufen sich darauf, dass ihre Athleten in Russland von Kontrolleuren aus dem Ausland getestet und die Proben – wegen der Sperre des Moskauer Labors – im Ausland analysiert worden seien. Die Weltverbände sollen eine „individuelle Analyse“ der Anti-Doping-Historie eines jeden Athleten vornehmen. Sie sollen auch recherchieren, ob der in Frage kommende Athlet im anonym gehaltenen McLaren-Report über das russische Staatsdoping eine Rolle spielt.
Wie schnell das gehen kann, zeigte der internationale Tennisverband; er nominierte noch am Sonntagabend sieben russische Spielerinnen und Spieler.
Sebastian Coe, der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes, bot denjenigen, denen die Weißwaschung russischer Teilnehmer schwerer fällt, die Hilfe seiner Organisation an. Die IAAF hat bereits im November den russischen Leichtathletik-Verband ausgeschlossen, den Bann für Rio im Juni bestätigt und allein die in Florida lebende Weitspringerin Darija Klischina zugelassen; außerdem hat der Verband den Start von Julija Stepanowa empfohlen. Der Cas hat den Bann bestätigt.
Der am Montag vergangener Woche publizierte McLaren-Report soll nach dem Willen des IOC vervollständigt werden. „Dies ist nicht das Ende“, sagte Bach. „Es wird weiter ermittelt.“ Der Jurist McLaren hat festgestellt, dass Russlands Sportführung Hunderte von positiven Dopingproben verschwinden ließ und Tausende vernichtete. Während der Winterspiele 2014 in Sotschi wurden mit Hilfe des russischen Geheimdienstes systematisch Urinproben ausgetauscht worden, um das Doping russischer Athleten zu verschleiern.
„Dies ist ein fatales Signal“
Die Nationale Anti-Doping-Agentur in Bonn äußerte sich enttäuscht von der Entscheidung des IOC. „Die kurzfristige Prüfung und Bewertung nun auf die internationalen Verbände zu übertragen, hält die Nada für falsch“, teilte sie am Sonntagabend mit. „Es gibt keine einheitlichen Regeln für ein einheitliches und fachmännisches Vorgehen aller internationalen Verbände. Dies führt zu einem unterschiedlichen Vorgehen der Sportarten. Dies ist ein fatales Signal. Die Fachkompetenz der Welt-Anti-Doping-Agentur und der Nationalen Anti-Doping-Organisationen wird völlig außen vor gelassen.“
Die Nada habe sich ein klares Signal für den sauberen Sport gewünscht; dieses sei ausgeblieben. Die Entscheidung lasse viele Fragen offen und schwäche dadurch das Anti-Doping-System. Die Nada kritisierte auch die Entscheidung, Julija Stepanowa das Startrecht für Rio zu verwehren. Dies schwäche das Whistleblower-System.
Vor der IOC-Entscheidung hatte sich Michail Gorbatschow, letzter Präsident der Sowjetunion, für die russischen Sportler in die Bresche geworfen. „Mich beunruhigt und betrübt die Möglichkeit, dass zusammen mit den Tätern auch Unschuldige bestraft werden“, schrieb der Friedensnobelpreisträger in einem in Moskau veröffentlichten Brief an IOC-Präsident Bach. Das Prinzip der kollektiven Strafe sei unannehmbar. „Dies widerspricht der Kultur der olympischen Bewegung“, betonte Gorbatschow.
Demonstrativ hatte der russische Präsident Wladimir Putin die Gründung einer neuen Anti-Doping-Kommission angekündigt – womöglich auch, um dem drohenden Bann zu entgehen. Die Leitung der Kommission soll vermutlich der 81 Jahre alte Witali Smirnow übernehmen, der seit 45 Jahren IOC-Mitglied ist und die Olympia schon in der Sowjetunion vertrat.
Die IOC-Exekutive unter Führung von Bach widerstand mit seiner Entscheidung dem wachsenden öffentlichen Druck von seiten der Anti-Doping-Behörden. Die Wada, die den Bericht des kanadischen Juristen Richard McLaren in Auftrag gegeben hatte, empfahl dem IOC, einen kompletten Ausschluss Russlands von Rio zu erwägen.
Auch der Vorgänger des Wada-Präsidenten Craig Reedie, der Australier John Fahey, und der Kanadier Richard Pound, selbst IOC-Mitglied, forderten einen Bann des russischen NOK. Zahlreiche Olympiasieger, Medaillengewinner und das britische IOC-Mitglied Adam Pengilly hatten ähnliches in der Londoner „Times“ gefordert – was Bach eine Kampagne nannte.
In Deutschland forderte der für Rio qualifizierte Säbelfechter Max Hartung den Ausschluss der russischen Sportler. Hartung, Mitglied der Athletenkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes, kritisierte im „Deutschlandfunk“ die „geradezu lächerliche“ Summe, die das IOC für Anti-Doping-Maßnahmen ausgebe.
Der Zeitdruck, unter dem die Nachtests der Olympischen Spiele von London 2012 und Peking 2008 stattfinden, sei ärgerlich. „Ich verstehe überhaupt nicht, warum solche Proben jetzt erst wieder geöffnet werden und nicht alle Proben kategorisch zur gegebenen Zeit nachgetestet werden“, sagte er.
Wenn die Antwort eine Geldfrage sei, müsse weit mehr Geld investiert werden, sagte Hartung. „Das Geld ist da, ich habe die Schlagzeilen gelesen, wie die Einnahmen des IOC immer weiter steigen in astronomische Höhen.“
Christoph Becker, Michael Reinsch und Evi Simeoni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 24. Juli 2016
Die Mitglieder der IOC-Exekutive
Präsident:
Thomas Bach (Deutschland)
Vizepräsidenten:
Nawal El Moutawakel (Marokko), Vorstandsmitglied des Leichtathletik-Weltverbandes
Craig Reedie (Großbritannien), Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur
John Coates (Australien), Präsident des Internationalen Sportgerichtshofs
Zaiqing Yu (China), Vizepräsident des NOK von China und Vizepräsident der Vereinigung der Nationalen Olympischen Komitees
Mitglieder:
Ching-Kuo Wu (Taiwan), Präsident des Box-Weltverbandes
René Fasel (Schweiz), Präsident des Eishockey-Weltverbandes
Patrick Joseph Hickey (Irland), Präsident der Vereinigung der Europäischen NOK
Claudia Bokel (Deutschland), Athletensprecherin
Juan Antonio Samaranch (Spanien), Vizepräsident des Weltverbandes Moderner Fünfkampf
Sergej Bubka (Ukraine), Präsident des NOK der Ukraine
Willi Kaltschmitt Luján (Guatemala), Südamerikanischer Multifunktionär
Anita DeFrantz (Vereinigte Staaten), Mitglied diverser IOC-Kommissionen
Ugur Erdener (Türkei), Präsident des Weltverbandes der Bogenschützen und Präsident des NOK der Türkei
Gunilla Lindberg (Schweden), Generalsekretärin Vereinigung der Nationalen Olympischen Komitees
Autor: Christoph Becker, Sportredakteur.
Autor: Michael Reinsch, Korrespondent für Sport in Berlin.
Autorin: Evi Simeoni, Sportredakteurin.
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