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Harting zur IOC-Entscheidung – „Im IOC herrschen Zustände wie bei der Fifa“ – Michael Reinsch, Kienbaum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Robert Harting kennt gegenüber Thomas Bach null Toleranz. „Für mich ist er nicht Teil der Anti-Doping-Bewegung, sondern Teil des Doping-Systems.“ So kommentierte der Diskus-Olympiasieger am Mittwoch die Entscheidung des Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Russland nicht pauschal von den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro auszuschließen.
Dass die Olympier darüber hinaus auch noch der Whistleblowerin Julija Stepanowa den Start im 800-Meter-Lauf verweigern, für den sie sich sportlich qualifiziert hat, lässt Harting das härteste Urteil fällen, das im Sport möglich ist:
„Diese Entscheidungen zeigen die Verkommenheit. Im IOC herrschen Zustände wie bei der Fifa.“ Gegen eine Vielzahl von Funktionären des Fußball-Weltverbandes ermittelt die Justiz.
Bach lässt das nicht lange auf sich sitzen. „Es ist eine nicht akzeptable Entgleisung, wenn man jemanden, der nicht der eigenen Meinung ist, in derartiger Art und Weise beleidigt“, sagte Bach am Dienstag in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Julija Stepanowa und ihr Mann Witali Stepanow bezichtigten das IOC derweil, die Unwahrheit zu verbreiten.
In einer Pressemitteilung belegten sie, dass Stepanowa sich gegenüber dem IOC bereiterklärt hatte, in der russischen Nationalmannschaft zu starten. Das IOC hatte seine Entscheidung am Sonntag auf der gegenteiligen Behauptung basiert.
Harting und Stepanowa, die nach ihrer Flucht aus Russland mit Mann und Kind zunächst in Berlin lebte, haben sich beim Training kennengelernt. Gewiss habe sie dem Sport geschadet, indem sie jahrelang dopte, sagte Harting vor Journalisten im Trainingszentrum Kienbaum bei Berlin.
„Aber sie hat so viel mehr für den sauberen Sport getan.“ Das IOC sei aufgrund seiner Charta verpflichtet, behauptete Harting, Verfolgten besonderes Gehör zu schenken. Doch weil der Start der Läuferin in Rio ein Schlag ins Gesicht des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin wäre, habe das IOC ihn verhindert.
Bach habe ihn nicht aufs Neue enttäuscht, sondern eine neue Dimension der Enttäuschung erreicht. Am Sonntag, als das IOC entschied, besser: nicht entschied, sei für ihn eine Welt zusammengebrochen: „Ich schäme mich für Bach.“ Der Ansehensverlust des Olympischen Sports und dessen aktuelle Krise, glaubt Harting, habe auch sein Gutes. „Dies ist die Chance für einen Paradigmenwechsel.“ Die Funktionäre müssten sich hinterfragen, sie hätten in vieler Hinsicht versagt.
Der Diskuswerfer und seine Lebensgefährtin Julia Fischer, auch sie Diskuswerferin mit Olympia-Qualifikation, haben gemeinsam mit der Athletensprecherin der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada), der Kanadierin Becky Scott, eine Website eingerichtet, auf der Geld für die Familie Stepanow gesammelt wird.
Seit Mittwoch werden im Netz zudem Unterschriften für eine Petition gesammelt, mit der das IOC dazu bewegt werden soll, die Läuferin starten zu lassen.
„Ich bin nicht gegen russische Athleten“
Stepanowa und ihr Mann werfen dem IOC unterdessen vor, den Ausschluss „unfair und auf der Basis falscher und unwahrer Informationen“ vorgenommen zu haben. Im Gegensatz zur Veröffentlichung des IOC habe sie sich in der Anhörung durch dessen Ethik-Kommission bereit erklärt, in der russischen Olympia-Mannschaft zu starten. Zum Beleg hat sie die Aufnahme des vollständigen Gesprächs zur Verfügung gestellt, das die Mitglieder der Kommission auf Französisch und die Sportlerin auf Russisch führten.
Darin wird sie gefragt, ob sie – hypothetisch – bereit sei, Teil der russischen Nationalmannschaft zu sein. Sie antwortet laut französischer Übersetzung: „Wenn das Russische Olympische Komitee mir sagen würde, dass es mich unterstützte, dass ich Teil der russischen Mannschaft wäre, würde ich das akzeptieren.“ „Ich bin nicht gegen russische Athleten“, sagt sie, „ich unterstütze sie mit ganzem Herzen, sie tun mir leid, weil sie Teil dieses Systems sind und ihm nicht entfliehen können. Wenn ich eine solche Erlaubnis hätte, ja, ich wäre glücklich, in der russischen Nationalmannschaft zu sein.“
Die Vereinigung der Nationalen Anti-Doping-Agenturen und die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) hatten empfohlen, Stepanowa den Start in Rio zu ermöglichen, auch als Zeichen für künftige Whistleblower.
Der Start wäre kein Gnadenakt: Stepanowa hat sich qualifiziert. Bei der Leichtathletik-EM in Amsterdam durfte sie als neutrale Athletin starten. Nun fehlt es allein an einer Organisation, die sie nominieren darf und will.
Die Dokumentation der Anhörung bringt das IOC weiter in Verlegenheit. Tatsächlich hatte sie beim IOC auch lediglich beantragt, unter neutraler Flagge starten zu dürfen. „Da Frau Stepanowa sich weigert, als Mitglied des ROC-Teams (der Mannschaft des Nationalen Russischen Olympischen Komitees) zu starten, hatte das Exekutivkomitee des IOC die Frage zu bedenken, ob eine Ausnahme von den Regeln der Olympischen Charta möglich und angemessen ist“, heißt es im zweiten Teil der am Sonntag veröffentlichten Entscheidung des IOC, Russland nicht auszuschließen.
Das Argument, es bedürfe eines Nationalen Olympischen Komitees, um einen Athleten, besonders einen auf der Flucht, für die Spiele zu nominieren, akzeptieren Stepanowa und ihr Mann nicht. „Im Gegensatz zum IOC sind wir der deutlichen Meinung, dass die Regeln der Olympischen Charta das IOC nicht daran hindert, Athleten anzuerkennen, die nicht von einem NOK nominiert werden“, schreiben sie. „Das kürzlich aufgestellte Flüchtlings-Team ist ein Beispiel dafür.“
Das IOC geht davon aus, dass der Antrag Stepanowas auf Startrecht unter neutraler oder olympischer Flagge die Startverweigerung für Russland impliziere. Zwar sei die Möglichkeit bei der Anhörung diskutiert worden. Sie habe ihren Antrag aber nicht geändert, so dass ihr Start als neutrale Athletin die einzige Option in der Beurteilung durch die Ethik-Kommission gewesen sei, schreibt das IOC auf Anfrage. Es führt weiter aus, dass Stepanowa, würde sie für Russland starten wollen, zu gewärtigen hätte: „Nach der Entscheidung des Exekutivkomitees des IOC kann kein russischer Athlet mit einer Doping-Sperre nominiert werden.“
Julija Stepanowa kämpft weiter.
Eine Argumentation, in der sich die Katze in den Schwanz beißt. Das IOC ignoriere dabei, wie die Stepanows ausführen, dass die Unmöglichkeit für Russland zu starten „nicht auf dem Wunsch basierte, nicht mehr unter der russischen Fahne anzutreten, sondern auf feindseligen Behandlung und Bedrohungen, denen sie seit Dezember 2014 bis gestern ausgesetzt waren“.
Über die formalen Gründe hinaus führt das IOC die Meinung der Ethik-Kommission als Begründung für den Ausschluss an, dass die Läuferin nicht die ethischen Anforderungen für eine Olympia-Teilnahme erfülle.
Michael Reinsch, Kienbaum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 26. Juli 2016
Protest: Gäb gibt Orden zurück
Hans Wilhelm Gäb, der Ehrenvorsitzende im Aufsichtsrat der Stiftung Deutsche Sporthilfe und Ehrenpräsident des Deutschen Tischtennis-Bundes, hat den ihm 2006 verliehenen Olympischen Orden zurückgegeben.
„Ich halte die Entscheidung des IOC, das russische NOK, dem systematische Doping-Kriminalität nachgewiesen wurde, nicht zu sanktionieren, für den bisher schwersten Schlag gegen die Integrität des Sports und die olympischen Prinzipien“, schrieb der frühere Chef der Sporthilfe in einer am Dienstag veröffentlichten Erklärung. „Ich empfinde die für Rio vom IOC beschlossene Aussperrung der russischen Athletin Stepanowa, die mit der Aufdeckung russischer Betrügereien dem sauberen Sport einen grossen Dienst erwiesen hatte und in der Folge (…) flüchten musste, als einen schamlosen Akt und eine einzigartige Verbeugung vor der Machtpolitik eines bloßgestellten Staates.“
Die Ehrennadel des Deutschen Olympischen Sportbundes wolle er zurückschicken, sollte das Präsidium die Haltung des DOSB-Präsidenten Alfons Hörmann übernehmen, der die Entscheidung als „fair und gerecht“ bezeichnet hatte. Hörmann habe die DOSB-Athletenkommission und die Nationale Anti-Doping-Agentur desavouiert, so der 80 Jahre alte Gäb.
Quelle: F.A.Z.
Petition unterschreiben – Schreiben an das IOC – Julia Stepanowa für Rio:
Whistleblower nicht bestrafen
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