2016 Olympic Games Rio De Janeiro, Brazil August 12-21, 2016 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
Sebastian Coe im Gespräch – „Es geht um das System, nicht um Athleten“ – Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Am Freitag beginnt die zweite Woche der Olympischen Spiele mit dem Auftakt der Leichtathletik. Wie beurteilen Sie den Zustand Olympias?
Die olympische Bewegung ist stark, der olympische Sport ist stark, und die ganze Welt guckt sich die Spiele an. Ein großer Teil der Zuschauer tut nicht viel anderes, als Olympia zu gucken. Das Konzept ist sehr, sehr stark.
Leichtathletik wird ohne russische Mannschaft stattfinden; Ihr Verband hat den russischen Verband wegen systematischen Dopings ausgeschlossen. Thomas Bach und das IOC haben sich für das Gegenteil entschieden. Wie beurteilen Sie das?
Beide Organisationen haben Entscheidungen getroffen, von denen sie glauben, dass sie in ihrem besten Interesse sind. Das Exekutivkomitee des IOC hat entschieden; ich saß mit im Raum, als diese Entscheidung von den anderen IOC-Mitgliedern ratifiziert und unterstützt wurde. Wir in der IAAF haben im November entschieden, dass die Ernsthaftigkeit der Situation nicht zulässt, dass wir abwarten und annehmen konnten, dass andere Organisationen die Architekten unserer Rettung werden würden. Unser Council hat diese Entscheidung einstimmig getroffen, als der erste Bericht der unabhängigen Kommission der Wada vorlag.
Im März haben Sie die Entscheidung bekräftigt…
… als uns der Bericht von Rune Andersen vorlag, der in Russland ermittelt hatte. Wieder haben wir einstimmig entschieden. Es hatte ein wenig Fortschritt gegeben, aber wir hatten nicht das Vertrauen, dass diese Systeme und Strukturen, wie Thomas es ja gesagt hat, den Eindruck von Chancengleichheit weckten.
Haben Sie geglaubt, Sie weisen dem IOC den Weg aus der Krise?
Unsere Vorstellung war, dass wir Sportlern vertrauen könnten, die außerhalb des Systems leben, die außerhalb Russlands regelmäßig getestet werden, und dass es deshalb angebracht sei, ihnen die Möglichkeit zur Teilnahme zu geben. Das war keine Ad-hoc-Entscheidung, sondern das Ende eines langen Prozesses. Am 9. November: der erste Wada-Report. Am 13. November: die vorläufige Suspendierung. Tage später die Berufung der Task Force von Rune Andersen. Wir haben sorgfältig gearbeitet und nach neun Monaten das Urteil gesprochen, von dem ich dankbar bin, dass das IOC es akzeptiert hat.
Die Verbände, denen Thomas Bach die Entscheidung übertragen hat, haben mehr als 270 russische Sportler gefunden, die angeblich alle außerhalb des Doping-Systems gelebt und trainiert haben. Ihr Verband hat lediglich zwei gefunden, von denen eine, die Whistleblowerin Julija Stepanowa, vom IOC explizit ausgeschlossen wurde …
Ich bin nicht IOC-Mitglied, also kann ich nicht für das IOC sprechen. Und schon gar nicht für andere Sportarten.
Warum sind Sie nicht IOC-Mitglied?
Das ist kein Thema.
Das IOC hat einen Filmregisseur aufgenommen, einen Banker, aber der Präsident der bedeutendsten olympischen Sportart, der immer ex officio Mitglied des IOC war, wird übergangen?
Mit elf bin ich in einen Leichtathletik-Verein eingetreten. Mit sechzig erfülle ich nun meinen Anspruch, mitzuhelfen, den Sport zu gestalten, der mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Darüber hinaus habe ich keinen Ehrgeiz.
Finden Sie nicht, dass die Leichtathletik von einem IOC-Mitglied vertreten werden müsste?
Ich bin absolut in der Lage, meinen Sport in der olympischen Bewegung zu vertreten mit der Rolle und der Verantwortung, die ich habe. Ich vertrete die Leichtathletik in der olympischen Bewegung. Ich vertrete nicht die olympische Bewegung in der Leichtathletik.
Hatten Sie erwartet, dass Thomas Bach so handeln würde: die Möglichkeit, ein betrügerisches Sportsystem auszuschließen, aus der Hand zu geben und zu erlauben, dass es mit Flaggen, Hymnen und großer Mannschaft bei den Olympischen Spielen vertreten ist?
Das IOC hat ein Urteil getroffen und wurde von seinen Mitgliedern bestätigt. Aber letztlich werden wir nicht jetzt beurteilt, im Moment. Niemand sollte sich täuschen: Am Ende wird es ein hartes Urteil darüber geben, wie wir uns als handelnde Personen – im IOC, in der IAAF, in der Wada, im IPC – verhalten haben. Wie wir Rollen und Verantwortungen wahrgenommen haben. Ob wir eine Landschaft geschaffen haben, die zusammenpasst, die strukturiert ist und die vor allem sauberen Athleten Vertrauen gibt. Wir haben einen Pawlowschen Reflex, dass wir bei großen Herausforderungen große internationale Konferenzen veranstalten. Diese Krise aber muss strukturiert und schlüssig gelöst werden, und das muss schnell passieren. Wir können das nicht für Jahre in der Schwebe lassen. Dieses Problem geht nicht von allein weg. Wir müssen uns damit befassen. Das IOC hat eine Entscheidung getroffen, die IAAF, die Wada, das IPC. Jetzt müssen wir all diese Organisationen konstruktiv zusammenbringen. Es gibt keinen höheren Grund, keine sportpolitische Nahrungskette oder Hierarchie, sondern allein die sauberen Athleten, für die wir dies tun.
Wie wollen Sie den immer wieder Betrogenen gerecht werden?
Wir haben sie in den Mittelpunkt unserer Reform gestellt. Deren Kern soll eine Integritäts-Einheit sein. Sie wird Sanktionen verhängen; die Verbände werden für immer aus diesem Zusammenhang entfernt, denn mit ihnen drohen Interessenkonflikte, droht die Verschleppung von Verfahren.
Die Russen haben, das ergibt der McLaren-Report, die Ergebnisse der Leichtathletik-WM 2013 in Moskau krass manipuliert. Werden Sie den Wettbewerb annullieren?
Nein, wir müssen noch ein wenig darauf warten, mehr zu erfahren. McLaren arbeitet weiterhin an diesem und anderen Fällen. Wir sind mittlerweile im Besitz der Proben; da ein Teil von ihnen vermutlich manipuliert ist, müssen wir sicher sein, was wir mit ihnen anfangen wollen.
Sie sind bald ein Jahr Präsident. Was in Ihrer Amtszeit alles passiert ist: Korruption im Verband ist aufgeflogen, systematisches und staatlich unterstütztes Doping in Russland, dazu ist die Wada gescheitert …
Eine Menge. Ich konzentriere mich von Anfang an darauf, die Lösung unserer Probleme keiner Organisation außerhalb zu übertragen. Unser Schicksal liegt in unseren Händen, nicht in den Sternen.
Wann erwarten Sie die Russen zurück? Könnten sie bei der WM 2017 in London am Start sein?
Unser Ziel muss sein, Russland und russische Athleten zurück in den internationalen Wettbewerb zu bekommen. Das wird sein, sobald es genug Vertrauen gibt, dass die Systeme und Strukturen in Russland Chancengleichheit garantieren. Deshalb habe ich Rune Andersen gebeten, hier in Rio zu sein, und deshalb wird die Task Force mit dem ausdrücklichen Willen tagen, dass wir in der Sekunde, in der diese Spiele beendet sind, unseren Dialog mit den Russen fortsetzen und den Schwung aufrechterhalten, sie zurückzubringen.
Hilft die Politik der Russen dabei? Sie bestreiten Doping, sie sind fordernd.
Ich glaube, dass es Fortschritte gegeben hat, auf einigen Gebieten. Aber als die Entscheidung anstand, hatte das Council nicht die Gewissheit, dass die Teilnahme von Russland und von russischen Athleten Chancengleichheit schaffen würde. Wir schlagen wegen dieser Episode nicht die Tür zu. Dies ist nur der Anfang.
Muss man, wie es die Entscheidung des IOC den Verbänden praktisch aufgibt, herausfinden, wer im Einzelnen gedopt hat und wer nicht?
Es geht nicht um einzelne Athleten. Wir müssen wirklich verstehen, welchen schädlichen Einflüssen Athleten ausgesetzt sind. Darum habe ich die Werte-Kommission geschaffen. Deshalb gehört zu den Kriterien für die Rückkehr Russlands und russischer Athleten in die internationale Leichtathletik, dass wir mit den Sportlern sprechen können – weil wir verstehen wollen, was vor sich geht. Es reicht längst nicht mehr, zu sagen: Athlet A ist positiv, Athlet A wird gesperrt, und wir schlagen das Buch zu. Wir müssen die Fälle verstehen, wir müssen wissen, welche Rolle Trainer spielen und Manager. Ich fordere jeden Verband auf, wenn er im Zweifel ist über die Integrität eines Trainers, den er beschäftigt: Weise ihm die Tür, und tu es heute. Wenn ein Sportler Zweifel an der Integrität hat: Weise ihm die Tür. Ich hatte dreißig Jahre lang denselben Trainer …
Ihren Vater, Peter.
Wir können nicht zulassen, dass auch nur fünf Trainer einer Generation nicht fassen können, dass ein Trainer einen Elfjährigen so lange trainiert, bis er im Olympiastadion läuft und all dies sauber tut.
Haben Sie die Petition unterschrieben für Julija Stepanowa? Mehr als eine Viertelmillion Menschen fordern vom IOC, die Läuferin und Whistleblowerin aus Russland in Rio starten zu lassen.
Habe ich nicht. Unsere Task Force kam zu der Überzeugung, dass Julija Stepanowa einen herausragenden Beitrag zur Doping-Bekämpfung geleistet hat mit signifikanten menschlichen Kosten und Opfern. Sie hat ihre Strafe abgeleistet, sie hatte nicht um eine Verkürzung gebeten, sie wollte nichts anderes, als diesen Beitrag leisten. Der europäische Verband hat sie zur ersten großen Meisterschaft eingeladen, bei der sie startberechtigt war. Ich habe sie dort, bei der Europameisterschaft in Amsterdam, getroffen. Ich habe sie eingeladen, mit unserer Werte-Kommission zu sprechen. Ihre Erfahrung ist wichtig dafür, dass wir den Druck und die Einflüsse verstehen, denen Athleten ausgesetzt sind. Sie ist dazu bereit. Amsterdam war die Veranstaltung des europäischen Verbandes. Dies hier in Rio ist die Veranstaltung des IOC. Es war am IOC, Julija Stepanowa einzuladen.
Erwarten Sie sie bei der WM 2017?
Wenn sie die Qualifikationsnorm erfüllt, wird sie, und das wünsche ich mir, in London antreten.
Ist die Petition von rund 270.000 Menschen Ausdruck davon, dass Sportinteressierte, Fans und Sportler Demokratie von außen an die Verbände herantragen, dass sie ihren Sport zurückverlangen, in diesem Fall vom IOC?
Das ist nicht nur im Sport so. Ich glaube, dies ist die Natur gesellschaftlicher Veränderungen. Der Zugang zu Information ist leichter denn je. Meine Kinder leben in einer Welt, in der sie Dinge in Frage stellen, in der sie vor moralischen Entscheidungen stehen bei ziemlich allen großen Themen: Globalisierung, Rassismus, Sexismus. Sie arbeiten gemeinsam und in Netzwerken. Gerade wir im Sport müssen verstehen, dass wir nicht nur Sportorganisationen sind. Menschen beurteilen uns nicht danach, ob wir Hockey oder Leichtathletik oder Schwimmen vertreten. Gerade junge Menschen beurteilen uns danach, ob sie bei uns die Welt wiederfinden, wie sie sie erleben. Wenn dies nicht der Fall ist, finden sie eine andere Beschäftigung. Wenn wir nicht authentische Erfahrungen ermöglichen, verlieren wir sie, und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie überhaupt im Sport bleiben.
Alle Sportorganisationen haben die Verantwortung, die gesellschaftlichen Veränderungen zu versuchen zu verstehen. Die größten Anteilseigner eines Sports sind seine Fans. Möge das noch lange so sein.
Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 12. August 2016