13.10.2016, Stadion-Wilmersdorf, Berlin, GER, LSB, Parcoursport, im Bild Foto Juergen Engler
Mal anders durch die Stadt turnen – Bianka Schreiber-Rietig in Sport in Berlin
Spektakuläre Saltos über Mülltonnen und parkende Autos, anschließend an einer Mauer hoch hangeln, dann elegant einen Gartenzaun überspringen, um dann einen Schornstein hochzuklettern, von dort auf ein Dach zu gelangen und schließlich in einem Hinterhof zu landen.
Bilder aus einer Dokumentation über die Sportart oder besser Bewegungsform Parkour, die in Frankreich ihren Ursprung hat. Die SportlerInnen heißen Traceur (Spurenleger).
Auf den ersten Blick ist Parkour nur eine Art der Fortbewegung in Natur und urbanem Raum. Die Kunst besteht darin, so schnell und effizient wie möglich zu Fuß von A nach B zu kommen. Im Verein „Fußgänger e.V.“ haben sich Traceurs zusammengeschlossen. Seit 2008 gibt es den Klub. Martin Wille ist von Anfang an dabei und jetzt Vorsitzender der „Fußgänger“, die sich zur „Knechtung” wie sie das Training mit einem Augenzwinkern bezeichnen, im Wilmersdorfer Stadion treffen.
Es ist duster und kalt an diesem Abend, aber davon lässt sich offensichtlich ein echter Traceur nicht abhalten. Da sind die aus der „Next Generation“-Gruppe – die Sieben- bis Zwölfjährigen – ebenso vertreten wie die aus der allgemeinen Gruppe. Zuerst steht Warmlaufen an, bevor es mit dem eigentlichen Training losgeht. Es fällt schon schwer, sich vorzustellen, wie man beispielsweise einen Sprung von einer Treppe auf eine Geländestange in diesem Halbdunkel abschätzen, geschweige denn auch darauf landen kann.
Martin Wille lacht. „Man lernt die Distanz abzuschätzen und sich selbst einzuschätzen.“ Der Franzose David Belle hat in den 90er Jahren „le Parkour“ bekannt gemacht, aber diese Bewegungsart gab es schon früher und in verschiedensten Formen. Und jede Art hat eine eigene Philosophie entwickelt. Die einen sehen es als Extremsportart für Menschen, die einen speziellen Kick suchen. Andere verstehen sich als Künstler, die spezielle Bewegungsabläufe erfinden.
Für Martin Wille und seine Mitstreiter ist Parkour in erster Linie Körpererfahrung, Körperbewusstsein, Körperschulung – und eine Lebenseinstellung, Es geht nicht um Wettkampf: Jeder trainiert zwar für sich selbst, ist aber dennoch in einer Gemeinschaft, deren Mitglieder einander Tipps geben, und die Spass hat. „Mit Parkour kann man sich körperlich weiterentwickeln, den Körper fit und flexibel halten, aber auch mentale Grenzen oder Hindernisse überwinden“, sagt Wille. Altersgrenze? Das ist eher individuell zu betrachten. „Die Fähigkeiten nützen mir auch in anderen Lebensbereichen und im Alltag.“
Selbstbewusstsein, Körperkontrolle, Einschätzen von Situationen sind schon mal drei gute Argumente für Parkour-Training. Neben der Parkour-Idee möchten die „Fußgänger“ Bewegung allgemein in der Gesellschaft fördern. Besonders für Kinder könnte Parkour eine gesunde, spielerische Alternative zu elektronischem Dauerkonsum und für Couch-Potatos sein.
Der natürliche Bewegungsdrang der Kinder wird heute nicht selten von Erwachsenen ausgebremst: Überängstliche Helicopter-Eltern werden beim Balanceakt ihres Sprößlings auf einem Baumstamm oder beim Hochhangeln am Klettergerüst nervös. Auch Bewegung im Alltag, und sei es nur der Schulweg, wird Kindern allein kaum noch zugetraut.
Entscheidet sich jemand für die Bewegungsphilosophie Parkour, so muss er erst einmal seinen Körper kennenlernen. Das braucht Zeit, deshalb sollte man das langsam angehen lassen“, sagt Wille. In seinen Körper hinein hören, Reaktionen auf Anstrengung oder mentale Herausforderungen kann man auch bei anderen Sportarten üben. Und man erfährt viel über sich selbst: seine Leistungsfähigkeit, seinen Willen, seinen Mut, seine Ängste und seine körperlichen und mentalen Grenzen. „Beim Parkour-Training habe ich gemerkt, wo ich im Körper überall Muskeln habe, von denen ich bis dahin nichts ahnte“, erzählt Wille über seine ersten Versuche, die er nach einem Kurs an seiner Schule vor zehn Jahren gemacht hatte.
Es sind überwiegend SchülerInnen und StudentInnen, die sich für diesen Sport interessieren. Aber auch andere werden neugierig, wenn sie am Potsdamer Platz oder beim Velodrom den Traceurs zuschauen. Wieder andere wurden auf Parkour durch Videos auf Youtube aufmerksam. Aber oft werden da Filmchen eingestellt, in denen die Protagonisten mit halsbrecherischen Stunts schon eher eine Show vorführen. Auch die Parkour-Szene haben schon geschäftstüchtige Macher entdeckt – und kreieren Trends. Das haben beispielsweise Skateboarder erfahren müssen.
Das ist nicht die Welt der Berliner „Fußgänger“, die sich auch sozial engagieren. Seit der Gründung des Vereins gibt es Angebote für Flüchtlinge. „Viele haben wenig Möglichkeiten, Freizeitaktivitäten nachzugehen. Bei uns brauchen sie nichts weiter als eine Mauer, ein Geländer und Kreativität“, sagt Wille. Seit Anfang des Jahres bieten sie auch Workshops in Kooperation mit anderen Organisationen im Rahmen von Inklusionsprojekten an.
Die Stadt mal anders erobern: Mauern, Zäune oder Geländer sind keine unüberwindbaren Hindernisse mehr. Kein langweiliger Spaziergang. Abgesehen davon, dass die eigene körperliche Befindlichkeit sich bessert, wäre das ein Anreiz,, bei den „Fußgängern“ mitzumachen. Man braucht nichts als den eigenen Körper, bequeme Klamotten und Sportschuhe.
info@fussgaenger.euy
Bianka Schreiber-Rietig in Sport in Berlin – Nov.-Dez. 2016