Lilli Henoch – eine Wegbereiterin der Frauen-Leichtathletik - Foto: ©Sportmuseum Berlin – AIMS Marathon-Museum of Running
„Das sympathische Fräulein Henoch vom BSC Berlin“ – Dr. Berno Bahro in der DOSB Presse
Bei der „Gedenkveranstaltung zum 125. Geburtstag der Sportlerin Lili Henoch 1899–1942“ am 29. Oktober 2024 in Berlin hielt Dr. Berno Bahro folgenden Vortrag:
Ein Sportreporter schrieb Anfang August 1924 – also vor fast genau 100 Jahren – in seinem Bericht über die Deutschen Leichtathletikmeisterschaften: „Das sympathische Fräulein Henoch vom BSC ist der […] weibliche Nurmi! [sie] gewann: Kugelstoßen, Diskuswerfen, Weitsprung!“ … und das Fräulein Henoch – wie der Reporter sie nennt – hätte auch fast noch den 100-m-Lauf gewonnen. Nur ganz knapp wurde sie im Finalrennen auf den zweiten Platz verwiesen.
Wie kommt jemand zu einem Vergleich mit dem finnischen Wunderläufer Pavo Nurmi, der in den 1920er Jahren neun olympische Goldmedaillen gewann und 24 Weltrekorde aufstellte?
In der Rekordliste von Lili Henoch finden sich keine olympischen Medaillen. Dieser Umstand lässt sich leicht erklären. Vor 100 Jahren funktionierte der Sport noch anders: Von einer gleichberechtigen Teilnahme von Frauen an Olympischen Spielen konnte noch keine Rede sein. Als sich Lili Henoch im Sommer 1924 in ganz offensichtlicher Topform befand, waren Frauen bei den Leichtathletikwettkämpfen der Olympischen Spiele in Paris noch gar nicht zugelassen. Erst 1928 – bei den Spielen in Amsterdam – durften Frauen an den Start gehen, aber nur in fünf Disziplinen – Kugelstoßen und Weitsprung standen überhaupt nicht auf dem Programm.
Olympische Erfolge blieben Lili Henoch trotz zahlreicher Rekorde versagt.
Wir können also nur mutmaßen, in der Form von 1924 wäre sie aber sicher eine Medaillenanwärterin gewesen. 1928 konnte sie wegen einer Verletzung nicht an den Start gehen – deshalb blieben ihr olympische Erfolge letztlich versagt.
Auf der Habenseite – ihrer sportlichen Rekordliste – konnte sie insgesamt zehn deutsche Meistertitel verbuchen. Darüber hinaus stellte sie vier Weltrekorde auf: zwei davon im Diskuswerfen, einen im Kugelstoßen und einen mit der 4 mal 100-m-Staffel. Die ersten drei Rekorde muss man leider in die Kategorie „inoffiziell“ einordnen: Als sie errungen wurden, war Deutschland noch nicht Mitglied des internationalen Verbandes.
Rechnet man die zahlreichen brandenburgischen und Berliner Meistertitel und die Erfolge bei Stadionfesten hinzu, dann war Lili Henoch unbestritten die erfolgreichste deutsche Leichtathletin der 1920er Jahre.
Aber sie war nicht nur aktive Leichtathletin. Man kann sie durchaus als ein Multisporttalent bezeichnen: Auch im Feldhockey und im Handball erzielte sie mit den Teams des Berliner Sport-Clubs Erfolge, nach 1933 mit dem Jüdischen Turn- und Sportclub von 1905.
Welche Wertschätzung man diesen Erfolgen beimaß, lässt sich nicht nur aus der Berichterstattung in der Presse ablesen, aus der ich anfangs zitiert habe. Schon 1923 wurde ihr aufgrund ihrer Leistungen und wie es hieß „ihrer vorbildlichen Clubtreue“ das Recht zum Tragen des goldenen Adlers verliehen. Der eigentlich schwarze Alder war das Vereinslogo des Berliner Sport-Clubs. Sie war die erste Frau, die diese besondere Auszeichnung erhielt und sie blieb es auch für viele Jahre.
Die angesprochene Clubtreue sollte sie in den Folgejahren beweisen und zwar nicht nur als Sportlerin. Sie übernahm auch Funktionen, wurde Beisitzerin der Damenabteilung (1926), Leiterin der Handballabteilung (1928) und Sportwartin im Damenhandball (1931). Am 18. Januar 1933 wählte sie die Damen-Athletikabteilung zu ihrer Vorsitzenden.
Sie können meinen Darstellungen entnehmen bzw. daraus rückschließen, welche Rolle der Sport in ihrer Freizeit eingenommen haben muss.
Dass ihr der Sport nicht nur eine Leidenschaft war, wird daraus ersichtlich, dass sie an der Preußischen Hochschule für Leibesübungen in Berlin ein Studium aufnahm. Sie machte sich den Sport zum Beruf, wurde Turnlehrerin und arbeitete ab 1933 an der jüdischen Volksschule in der Rykestraße im Prenzlauer Berg.
Ich habe mit einem Zitat begonnen und möchte gern mit einem Zitat auf die Zielgerade einbiegen. 1929 feierte die Damenabteilung des Berliner Sport-Clubs sein 10jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass schrieb der damalige Vereinsvorsitzende Hönicke in den Clubnachrichten einen kleinen Artikel.
Dort heißt es:
„Wir sind alle ehrlich genug anzuerkennen, dass sich unsere im Kampf stehenden Damen fast immer mit vorbildlicher Treue geschlagen haben. Allen voran Lilly Henoch, die nicht weniger als 7 deutsche Einzel- und 3 deutsche Staffelmeisterschaften gewonnen hat. Überhaupt Lilly Henoch! Wenn jemals ein Beispiel an Clubtreue und Uneigennützigkeit gebraucht wird, dann ruft ihren Namen. Und die Luft muss rein um uns werden.“ (Clubnachrichten des BSC, 09.09.1929) – sicherlich etwas Pathos, aber es zeigt die große Wertschätzung der Clubführung für seine Ausnahmeathletin.
Sie kennen die weitere Geschichte: Der Sportlerin Lili Henoch lagen Angebote aus dem Ausland vor, um dort als Trainerin zu arbeiten – aber sie blieb auch nach 1933 in Deutschland – bei ihrer Mutter und ihren Schülerinnen.
Im September 1942 wurde sie zusammen mit ihrer Mutter in Richtung Riga deportiert. Ein paar Kilometer vor Riga sind die Deportierten in ein Waldstück getrieben und ermordet worden.
Wir gedenken heute einer Frau, für die der Sport offensichtlich ein ganz wesentlicher Bestandteil ihres Lebens war. Wir gedenken an die erfolgreichste deutsche Leichtathletin der 1920er Jahre, die man vergebens in der „hall of fame“ des DOSB sucht und wir gedenken einem Menschen, der über diese Erfolge hinaus, mit viel Engagement und Herzblut Großes für die Entwicklung des Frauensports in Deutschland geleistet hat.
Anlaß dieser Gedenkveranstaltung war die Übergabe einiger Bücher aus dem Besitz von Lili Henoch an einen noch lebenden Nachfahren. Gefunden wurden diese Bücher in einem großen Buchbestand aus der Synagoge am Fraenkelufer in Berlin.
Bei der Recherche zur Provenienz der Bücher in einem Forschungsprojekt, das an der Moses Mendelsohn Akademie Halberstadt angesiedelt ist, und vom Deutschen Zentrum für Kulturverluste gefördert wird, fanden sich auch Bücher der Familie Henoch, darunter sportwissenschaftliche Bücher von Lili Henoch, die ja an der Preußischen Hochschule für Leibesübungen in Berlin-Spandau studiert hatte.
Dr. Berno Bahro, Universität Potsdam – in der DOSB Presse