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06
03
2024

Josh Kerr gewann vor heimischem Publikum in Glasgow das Hallen-WM-Gold über 3.000 m. - Foto: Dan Vernon for World Athletics GLASGOW, UK – MAR 2 : Image of Josh KERR at the World Athletics Indoor Championships on MAR 2, 2024 in GLASGOW, UK

Britische Begeisterung: Gold über 3000 Meter bei den Männern, Gold im Stabhochspringen der Frauen – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Glasgow erlebt bei der Hallen-WM Festspiele.

Josh Kerr wurde von einem Sturm der Begeisterung zum Weltmeistertitel getragen.

Als er auf der 200 Meter langen Bahn der Arena Glasgow anderthalb Runden vor Schluss an die Spitze ging und die Besten der Welt angriff, waren die Schotten auf den Beinen, verausgabten sich mit ihrem Landsmann aus Edinburgh, bis sie wie er keine Luft mehr hatten.

Und als der lange Athlet mit mächtigem Antritt den 10.000-Meter-Olympiasieger Selemon Barega und dessen Landsmann Getnet Wale niederrang, die beiden Äthiopier, die in 14 der 15 Runden mit dem Feld gespielt hatten, da stand auch die Fassungslosigkeit im Raum: Sollte Kerr wie im vergangenen Jahr bei der Weltmeisterschaft von Budapest auch zu Hause, bei der Hallen-Weltmeisterschaft in Glasgow, eine Überraschung gelingen?

Oder ist eine Überraschung, wenn sie zum zweiten Mal gelingt, vielleicht keine Überraschung?

Kerr, der Weltmeister über 1500 Meter, der Bezwinger des großen Jakob Ingebrigtsen, ist am Samstagabend auch Hallen-Weltmeister über 3000 Meter geworden (7:42,98 Minuten). Auf seiner langen Ehrenrunde verlangte er seinem Publikum mit ausholenden Armbewegungen und lauten Rufen eine weitere Anstrengung an Jubel und Zuspruch ab.

„So ein lautes Stadion hatte ich noch nie erlebt“, sagte er, als er, in die schottische Flagge gehüllt, dem weißen Andreaskreuz auf hellblauen Grund, die Bahn verlassen hatte: „Ich glaube, ich habe beim Feiern auf der Ehrenrunde mehr Energie verbraucht als im Rennen.“ Seit neun Jahren, seit er mit siebzehn nach Amerika zog, lebt Kerr in Albuquerque in New Mexico.

Ein Hauch von Super-Saturday durchwehte die Arena, als knapp eine halbe Stunde später die Neuseeländerin Eliza McCartney beim Stabhochsprung zweimal 4,90 Meter riss. Aus atemloser Spannung wurde schlagartig der nächste Jubel. Nun war auch noch Molly Caudery Weltmeisterin, Britin aus Cornwell. Für die von beiden übersprungene Höhe von 4,80 Meter hatte sie einen Fehlversuch weniger gebraucht. Schottische Flaggen wurden geschwenkt, der Union Jack hatte Hochkonjunktur.

Die 23 Jahre alte Caudery wusste sich vor Glück kaum zu fassen. Im Wettkampf war sie in Tränen ausgebrochen, als vor ihren Augen die Französin Margot Chevrier stürzte und sich vermutlich den Knöchel brach. „Das Geheimnis des Erfolges?“, sagte sie: „Nicht verletzt zu sein.“ Vor drei Jahren trennte sie sich bei einem Unfall im Krafttraining fast den Daumen ab; es brauchte drei Operationen, ihn zu retten.

Niemand mochte der für den dritten Titel des Abends vorgesehenen Laura Muir Vorwürfe machen. Vor fünf Jahren, bei der Hallen-Europameisterschaft am selben Ort, hatte die Schottin, die in Glasgow lebte und Veterinärmedizin studierte, die Titel über 1500 und 3000 Meter souverän gewonnen. Nun, Zweite der Olympischen Spielen von Tokio 2021, reihte sie sich im Rennen über 3000 Meter weit hinten ein und war nur damit beschäftigt, Lücken zuzulaufen, die vor ihr aufrissen.

Sie wurde Fünfte, während die Amerikanerin Elle St Pierre in der amerikanischen Rekordzeit von 8:20,87 Minuten die Weltrekordlerinnen Gudaf Tsegay aus Äthiopien, Schnellste der Welt über 5000 Meter, und Beatrice Chepkoech aus Kenia, schnellste Hindernisläuferin der Welt, hinter sich ließ.

Super-Saturday ist der Maßstab an Stimmung, seit bei den Sommerspielen von London 2012 in einer Dreiviertelstunde die Siebenkämpferin Jessica Ennis-Hill, der Weitspringer Greg Rutherford und der 10.000-Meter-Läufer Mo Farah Goldmedaillen gewannen und ihr Heimpublikum in Ekstase versetzten. Das mit 80.000 Besuchern gefüllte Olympiastadion wackelte an jenem Abend buchstäblich. Glasgow hat Platz für 5000 Besucher, und es ist ein Deckel drauf.

Das Sahnehäubchen auf die Ergebnisse des Abends setzten Femke Bol und ihre Trainingspartnerin Lieke Klaver. Sie sorgten über 400 Meter für einen niederländischen Doppelsieg, Hürden-Weltmeisterin Bol verbesserte in 49,17 Sekunden zum dritten Mal den Hallen-Weltrekord. Gefragt, ob sie, immerhin Europameisterin auf der Stadionrunde mit und ohne Hürden, bei den Olympischen Spielen in diesem Jahr womöglich das flache Rennen bevorzugen würde, wurde die eloquente Athletin einsilbig: „Nein.“

Den Sprint der Frauen über 60 Meter gewann Julien Alfred aus dem karibischen Inselstaat St. Lucia in 6,98 Sekunden vor der Polin Ewa Swoboda. Der britische Star Dina Asher-Smith aus London verzichtete zugunsten ihrer Olympiavorbereitung auf das Heimspiel in Schottland.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 4.3.2024

Michael Reinsch Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR