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01
2024

Symbolfoto: Kinder beim Schul-Crosslauf - Foto: Horst Milde

Leistungsgedanke bei Kindern: Von wegen Luschen und Weicheier! In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Ein Gespräch von Michael Reinsch mit Carolina Krafzik.

By GRR 0

Die Sprinterin und Grundschullehrerin Carolina Krafzik widerspricht der Behauptung, mit der Reform der Bundesjugendspiele sei der Leistungsgedanke abgeschafft worden. Das neue Format, sagt sie, weckt Freude an Bewegung.

Carolina Krafzik, Sie sind nicht nur eine der erfolgreichsten Leichtathletinnen Deutschlands mit allein fünf Meistertiteln über 400 Meter Hürden und in der Staffel, sondern Sie sind auch Sportlehrerin von drei Grundschulklassen in Wiernsheim im Enzkreis in Baden-Württemberg. Jeder Kolumnist in Deutschland, so scheint es, hat sich mit den Bundesjugendspielen beschäftigt . . . Interessantes Thema.

Stimmt der verbreitete Eindruck, dass der Wettkampf aufgegeben wird, um einer Generation von Weicheiern und Luschen entgegenzukommen?

Ganz und gar nicht. Das Interessante ist, dass die Bundesjugendspiele jetzt diskutiert werden, die Vorlage für die Veränderungen aber von 2016 stammt. Das ist alles seit sieben Jahren bekannt. Da muss ich schon schmunzeln, wenn ich das jetzt alles höre. Die Kinder-Leichtathletik hat der Verband 2013 entwickelt, um Vielfalt zu schaffen und koordinative Fähigkeiten zu fördern. Der Plan war, die Bundesjugendspiele von 2020 bis 2024 umzustellen. Wir an unserer Schule sind schon vor zwei Jahren vom Wettkampf abgekommen und zum Wettbewerb gekommen.

Was ist der Unterschied?

Wettkampf bedeutet, wie bei uns im Spitzensport, dreißig oder fünfzig Meter auf der Tartanbahn zu rennen, in die Weitsprunggrube zu springen, Wettkampf ist 800-Meter-Lauf und Schlagballweitwurf. Der Wettbewerb löst sich von dem leistungsorientierten Gedanken und eröffnet Möglichkeiten; nicht jede Schule hat eine Tartanbahn, auch unsere nicht. Nicht jede Schule hat eine Weitsprunggrube. An vielen Schulen war dieser Wettkampf deshalb nicht möglich.

Wie sieht die Lösung aus?

Die Wettbewerbe der Kinder-Leichtathletik finden weiterhin in Sprint, Sprung, Wurf und Ausdauerlauf statt. Für jede Disziplin stehen drei Übungen zur Auswahl. Die Lehrer finden sie im Internet. Wir haben im Sprint einen Hindernislauf gemacht; die Kleinen über Blocks, die Großen über Bananenkisten und im Slalom zurück. Dabei wird die Zeit gemessen. Die Kinder rennen halt nicht auf einer Tartanbahn geradeaus, was sie, wenn sie Leichtathletik lieben, ohnehin ihr ganzes Leben machen werden. Wir hätten auch einen Dreieck-Sprint machen können mit Hütchen auf dem Rasen. Die Kinder-Leichtathletik entwickelt die koordinativen Fähigkeiten der Kinder, und sie erleichtert uns als Schule die Arbeit.

Wird der Wettbewerb verwässert?

Es gibt leistungsstarke Schüler und leistungsschwache. Das ist im Sport genauso wie in jedem anderen Fach. Als wir nach der Corona-Pandemie auf diese Wettbewerbe umgestellt haben und Eltern als Helfer brauchten, waren sie alle begeistert. Viele erzählten, dass die Bundesjugendspiele das Schlimmste gewesen seien in der gesamten Schulzeit, wenn man als nicht begabtes Kind nichts erreichte und ganz offensichtlich war, wer schnell rennen konnte und wer nicht, wer zwei Meter gesprungen ist und wer dreißig Zentimeter. Die Eltern fanden die neuen Bundesjugendspiele so klasse, dass wir in diesem Jahr viel zu viele Anmeldungen von Helfern hatten. Alle wollten dabei sein. Das war sehr schön, auch für die Kinder, die nicht so sportlich sind. Sie machen gern mit, denn man springt in eine Zone, es wird nicht gemessen.

Warum wird nicht gemessen?

Die Orientierung an der Leistung kommt noch; in der Grundschule muss sie nicht sein. Die Kinder sollen Freude an der Bewegung bekommen. Sie lernen, wenn sie es noch nicht können, mit einem Bein abzuspringen und mit beiden zu landen. Daran hat sich nichts geändert. Die Kinder springen, so weit sie können, in eine Zone hinein. Für Zone eins gibt es einen Punkt, für Zone vier entsprechend vier. Die Punkte aus jeder Disziplin werden addiert. Je mehr, desto besser.

Was ist aus Schlagballweitwurf geworden?

Die Kinder werden herausgefordert zum Beispiel durch eine Art Diskuswurf mit Fahrradreifen: Wie drehe ich meinen Körper, wie ist der Schwung am besten? Das können vielleicht Kinder sehr gut, die sonst nicht so sportlich sind, aber mehr Schmackes haben.

Haben Sie den Leistungsgedanken abgeschafft?

Nein. Es gibt immer noch die bekannten Urkunden. Wir haben uns im Kollegium entschieden, das auf Klassen-Basis auszuwerten: Von 28 Kindern in der Klasse kriegen zwanzig Prozent, also sechs Kinder, die Ehrenurkunde. Der mittlere Teil bekommt Siegerurkunden und alle anderen eine Teilnehmerurkunde. Die Besten kriegen kein Abzeichen mehr, und sie können nicht sagen: Wir sind die Besten der ganzen Schule. Aber das muss auch nicht sein. Sie gehen, bei uns jedenfalls, sowieso zur Leichtathletik und auf Wettkämpfe. Wir sind Schule, wir fördern erst mal die Basis. Ich finde es total wichtig, Freude an der Bewegung zu schaffen.

Waren Sie von klein auf Wettkämpferin?

Ich war in keinem einzigen Jugendkader, meine Leistungsentwicklung hat spät eingesetzt. Meine Trainerin wollte, dass ich Mehrkampf mache, bis ich siebzehn war. Ich sollte vielseitig trainieren und nicht das ganze Leben nur eine einzige Disziplin machen. Es ist nicht wichtig, dass man in der Jugend schon in einer einzigen Disziplin gut ist, weil man vielleicht nichts anderes trainiert oder beim Wachstum den anderen voraus ist. Dadurch habe ich immer noch Freude und Spaß und mach das gern, was ich mache. Das versuche ich den Kindern in meinen Klassen beizubringen. Natürlich machen wir auch mal ein Wettrennen. Das wollen die Kinder, und es ist gut, diesen Kampfgeist zu entwickeln und festzustellen, wer die Besten sind.

Ist es auch wichtig, einem Kind in der ersten und zweiten Klasse Niederlagen beizubringen?

Verlieren gehört dazu. Das ist Sport. Es ist schade, dass dies isoliert betrachtet wird, allein auf die Bundesjugendspiele bezogen. Auch in einem ganz normalen Spiel gibt es Verlierer und Gewinner. Dies zu erleben, müssen die Kinder aushalten können, sie müssen eine Frustrationstoleranz entwickeln. Meine Viertklässler wollten mal einen Lauf von mir sehen. Ich habe ihnen einen gezeigt, in dem ich verloren habe, und gesagt: Ihr müsst nicht denken, dass ich jedes Mal gewinne. In einer Niederlage darf man traurig sein, aber man weiß auch, dass es ein nächstes Rennen gibt, dann probiert man es noch mal. Das ist Ehrgeiz. Als Gewinner darf ich mich freuen, aber ich darf nicht hässlich sein gegenüber dem Gegner. Man klatscht sich ab, das gehört dazu.

Ihre Schülerinnen und Schüler sind nicht nur ein einziges Mal im Jahr mit den Bundesjugendspielen konfrontiert, sondern üben die einzelnen Disziplinen im Unterricht?

Wir machen unsere Bundesjugendspiele meist nach den Pfingstferien. In den fünf, sechs Wochen davor, von Ostern an, steht an der ganzen Schule die Leichtathletik im Vordergrund; wir als Schule bereiten uns vor. Ich wähle für jede meiner Klassen die Übungen aus. Wir werfen nicht gleich am ersten Tag den Fahrradreifen oder stoßen den Medizinball. Erst bei den Bundesjugendspielen zeigen die Kinder, was sie gelernt haben.

Fünfzig Prozent der Kinder können nach der Grundschulzeit in Lebensgefahr geraten, weil sie – obwohl Schwimmenlernen auf dem Lehrplan steht – Nichtschwimmer bleiben. Wie sieht das an Ihrer Schule aus?

Das ist ganz schlimm. Wir an unserer Schule haben keine Möglichkeit, Schwimmunterricht zu geben. Wir würden gern, aber es gibt keine Schwimmhalle und kein Schwimmbad in der Nähe, in dem wir unterkommen. Wir bekommen kein Kontingent, weil die Bäder voll sind mit anderen Schulen aus dem Umkreis. Das ist erschreckend. Von Freunden in Schwimmvereinen höre ich, wie sie überrannt werden. Viele müssen die Anfragen von Eltern abweisen, weil auch sie keinen Platz in ihren Schwimmkursen haben. Das ist ein sehr schwieriges Thema. Es fehlt an Personen oder an Bäderkapazität. Man kann ja nicht Schwimmkurse mit sechzig Kindern veranstalten. Wenn die Eltern nicht sehr hinterher sind, kann es sein, dass Kinder nicht lernen, sich über Wasser zu halten – von richtig schwimmen spreche ich gar nicht. Ich finde, dass neue Bäder gebaut und alte saniert werden sollten, damit man keine Angst haben muss, dass die Decke runterkracht. Das hört sich schlimm an, aber das ist die Realität.

Als Sportlehrerin an einer Grundschule sind Sie eine Rarität. Den meisten Sportunterricht, man hört von mehr als neunzig Prozent, geben fachfremde Lehrerinnen und Lehrer. Warum ist das so?

Wir haben zu wenig ausgebildete Sportlehrer. An der Uni oder der PH muss man zwei Fächer wählen, eines davon muss Mathe sein oder wie bei mir Deutsch. Sport ist eines von vielen Nebenfächern. Wir fühlen uns zwar viele in der Sporthalle, aber verteilt aufs ganze Land ist unsere Zahl praktisch nichts. Unsere Schule ist dreizügig. Das bedeutet: Vier Jahrgänge mal drei macht zwölf Klassen mal drei Wochenstunden Sport. Wir haben an unserer Schule nicht genug Sportfachkräfte, um all diese Stunden abzudecken. Wir sind, weil meine Rektorin großen Wert darauf legt, vier studierte Sportlehrer. Manche Schulen haben gar keine. Da werden dann Jahr für Jahr Freiwillige gesucht. Sport ist gar nicht so beliebt, weil man dafür zur Sporthalle laufen und sich umziehen muss, weil es lauter ist als im Klassenzimmer, weil man Regeln erklären und durchsetzen muss, weil man vielleicht mal etwas vormachen muss – wenn man nicht einfach Ball spielen lässt. Solche Gedanken kann man Lehrkräften gar nicht verübeln, die noch nie etwas mit Sport zu tun hatten. Ich bin glücklich, dass ich Sport unterrichte.

Das Gespräch führte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mittwoch, dem 27.12.2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR