Kelvin Kiptum siegt in Chicago mit Weltrekord - Foto: Sean Hartnett
Jüngste Marathon-Rekorde – Zweifel und Skepsis halten mit – Ein Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Geht das mit rechten Dingen zu? Leistung kann man einem Sportler nicht vorwerfen. Doch die jüngsten Rekorde im Marathon sind schier unglaublich.
Nun ist er wieder Verdächtigungen ausgesetzt, der Sportsmann Kelvin Kiptum. Warum? Weil er das, was er beruflich tut, besser tut als alle anderen. In seinem dritten Marathonlauf, am Sonntag in Chicago, hat der 23 Jahre alte Läufer scheinbar mühelos den Weltrekord auf der mehr als 42 Kilometer langen Strecke auf 2:00:35 Stunden verbessert.
Während er im Ziel erst seinem belgischen Manager Marc Corstjens in die Arme fiel und dann antrabte zu einer Ehrenrunde, verbreitete sich wieder einmal das Gefühl, dass es in der Leichtathletik und insbesondere im Marathon nicht mit rechten Dingen zugeht.
Sifan Hassan, die Niederländerin aus Äthiopien, besäße in ihrer Siegeszeit von 2:13:44 Stunden nun ebenfalls den Weltrekord, wenn nicht vor vierzehn Tagen die Äthiopierin Tigest Assefa in Berlin die Bestleistung auf unglaubliche 2:11:53 verbessert hätte.
Zweifel sind angebracht
Die eine Läuferin kommt aus einer Vergangenheit im Nike Oregon Project, dessen Initiator Alberto Salazar lebenslang gesperrt ist. Die andere kommt praktisch aus dem Nichts. Gemeinsam haben sie, dass sie die einzigen Frauen auf der Welt sind, die einen Marathon in weniger als 2:14 Stunden laufen konnten.
Ist der zweifelnde Blick gerechtfertigt?
Sollte der Sportfan nicht mit dem Publikum jubeln, wenn beim Sportfest der Diamond League in Paris Weltrekorde über 5000 Meter der Frauen (Faith Kipyegon) und 3000 Meter Hindernis der Männer (Lamecha Girma) plus eine Weltbestleistung über die Meile (Jakob Ingebrigtsen) geboten werden? Erklären nicht die Superschuhe mit Hartschaum und Carbonplatte, die Assefa im Ziel küsste, die Leistungssteigerungen?
Tun sie nicht. Deshalb sind Zweifel angebracht. Was gab es für Erklärungen für die überragenden Leistungen italienischer Ausdauersportler Mitte der Achtzigerjahre, im Skilanglauf wie im Radrennen. Es war die Ankunft von Epo im Sport, wie man bald lernte. Das Mittel ist bis heute im Schwange.
Die meisten der mehr als sechzig wegen Dopings gesperrten kenianischen Läuferinnen und Läufer wurden der Einnahme von Epo überführt, unter ihnen Hindernis-Olympiasiegerin Ruth Jebet, gemanagt von Corstjens. Kiptum mag einen Manager haben. Einen Trainer habe er nicht, behauptet er.
Welche Leistung der junge Kenianer erbrachte, macht der Vergleich mit den Inszenierungen deutlich, mit denen Eliud Kipchoge, Olympiasieger von Rio 2016 und Tokio 2021, die Zwei-Stunden-Grenze attackierte. Bevor er sie durchbrach, blieb er 2017 auf der Rennstrecke von Monza trotz der Hilfe von dreißig sich abwechselnden Tempomachern 25 Sekunden über dem Limit. Er war damit nur zehn Sekunden schneller als Kiptum heute, und dieser lief gut zehn Kilometer allein.
Leistung kann man einem Top-Athleten schwerlich vorwerfen. Dem Metier aber sollte man mit Skepsis entgegentreten.
Ein Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 9. Oktober 2023