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09
2017

2017 Berlin Marathon Berlin, Germany September 24, 2017 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

44. Berlin-Marathon2017: Eiskalte Qual – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

 

Wer miterlebt hat, wie Philipp Pflieger beim Berlin-Marathon zusammenbrach, sich aufraffte und weiterlief, bis ihn nach dem dritten Sturz ein Zuschauer festhielt und aus dem Rennen nahm, dürfte staunen über die Unbeschwertheit des äthiopischen Debütanten Guye Adola.
 
Der lange Lauf durch Regen und Kälte ins Unbekannte, die Erfahrung in der Zone des Schmerzes jenseits von dreißig, fünfunddreißig Kilometern, war für Guye Adola nicht der Rede wert. „Reine Freude“, behauptete er, habe er besonders im Finale des 42,195 Kilometer langen Laufes erlebt, den er am Sonntag als Zweiter von rund 44.000 Teilnehmern zu Ende brachte.

Nur einer kam durch

Drei der besten Marathonläufer der Welt waren ins Rennen gegangen, um den Weltrekord von 2:02:57 Stunden zu brechen. Nur einer von ihnen kam durch: Eliud Kipchoge bewies mit seinem Sieg und der Zeit von 2:03:32 Stunden, dass ihm auf dieser Strecke derzeit niemand das Wasser reichen kann. Der Äthiopier Kenenisa Bekele fiel nach rund 24 Kilometern aus der Spitzengruppe zurück und gab nach einem schmerzhaften Solo schließlich auf, der Kenianer Wilson Kipsang, auch er noch am Vortag zuversichtlich, die Bestzeit erreichen zu können, trat hinter der Verpflegungsstation bei Kilometer dreißig unvermittelt von der Straße und übergab sich.

Beide Läufer sind erfahren genug, sich die Auszehrung zu ersparen, die Pflieger die Sinne raubte. Der Preis für ihren Ausstieg: Vermutlich werden ihre Antrittsgelder halbiert.

Kipchoge ist hart genug, Schmerz und Anstrengung durchzustehen. „Die Muskeln krampfen“, beschrieb Kipchoge seinen Lauf bei 14 Grad Celsius auf nasser Straße und zeitweise im Regen, „du kannst dich kaum noch bewegen.“ Schon bei Kilometer fünf habe er gewusst, dass es auch diesmal nichts werden würde mit dem Weltrekord.

Und als sich dann auch noch dieser lange Äthiopier an der Spitze hielt, den er noch nie gesehen hatte, während Tempomacher und Konkurrenten ausstiegen, wusste er, dass er sich allein darauf konzentrieren musste, das Rennen zu gewinnen.

Zehn, fünfzehn Meter ließ er Adola davonziehen, als dieser bei Kilometer 38 angriff. Dann schloss er zu dem 25-Jährigen auf, der einiges Renommee im Halbmarathon erworben hat, und kämpfte ihn auf den letzten zwei Kilometern nieder. Nach 2:03:46 Stunden im Ziel, sorgte der Äthiopier, unbeeindruckt vom Wetter, fürs schnellste Marathon-Debüt der Sportgeschichte. Mit 20.000 Euro Prämie dürfte sich der Äthiopier zufriedengeben; er gehört nun zu den Top Ten des Gewerbes. Kipchoge kann sich mit 70.000 Euro trösten.

Der Kenianer hat damit acht der neun Marathons, die er in seinem Leben bestritt, gewonnen. Seine Bestzeit von 2:03:05 Stunden, gelaufen beim London-Marathon des vergangenen Jahres, davon ist er überzeugt, spiegelt nicht im Geringsten seine Leistungsfähigkeit.

Seit Kipchoge im Mai bei einem Zeitlauf-Experiment seines Sponsors Nike unter optimierten Bedingungen auf der Autorennstrecke von Monza, und bis ins Ziel begleitet von Tempomachern, der Grenze von zwei Stunden, 25 Sekunden nahe gekommen ist, weiß er, dass der Weltrekord fällig ist. Doch selbst ein Top-Läufer wie er kann lediglich zwei solche Rennen im Jahr bestreiten. „Du kannst so hart arbeiten und so viel vorbereiten, aber das Wetter kannst du nicht kontrollieren“, sagte er. „Dies war das härteste Rennen meines Lebens.“

Kipchoge ist nicht nur auf der Straße im Rennen gegen die Uhr, sondern kämpft auch in seiner Karriere gegen die verrinnende Zeit. Als er vor zwei Jahren in Berlin zum ersten Mal den Weltrekord angriff, ruinierten ihm die Innensohlen, die aus seinen Laufschuhen quollen, die Bestzeit. Nimmt man seinen Olympiasieg von Rio de Janeiro im vergangenen Jahr, seinen Angriff auf die zwei Stunden im Mai und seinen Weltrekordversuch vom Sonntag, hält er sich seit zwei Jahren auf dem Gipfel der Form.

Selbst wenn er tatsächlich erst neunzehn Jahre alt gewesen sein soll, als er 2003 in Paris Weltmeister über 5000 Meter wurde, wenn er wirklich erst 32 Jahre alt sein sollte, drei Jahre jünger als Bekele und Kipsang, laufen ihm Zeit und Gelegenheiten davon, den einzigen Triumph seines Läuferlebens zu erkämpfen, der ihm noch fehlt. „Ich habe den Weltrekord weiter ganz vorn im Sinn“, sagte er in Berlin.

Anna Hahner erreicht ihr Ziel

Bei den Frauen siegte die Kenianerin Gladys Cherono in 2:20:23 Stunden vor der Äthiopierin Aga Ruti (2:20:41 Stunden). Anna Hahner meldete sich mit Platz fünf und der Qualifikation für die Europameisterschaft in Berlin im kommenden Jahr zurück. In 2:28:32 Stunden brachte sie den ersten Marathon hinter sich, seit sie bei den Olympischen Spielen von Rio de Janeiro gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Lisa nach 2:45 Stunden die Ziellinie überquert und für Ärger mit dem Verband gesorgt hatte, weil sie eine Verletzung verheimlicht hatte für dieses Erlebnis.

Nun, vollständig auskuriert, weinte sie nach diesem Comeback ein paar Sekunden an der Schulter von Lisa und gab sich dann strahlend ihrem Glück hin. „Ich bin ohne Erwartungen ins Rennen gegangen“, sagte sie. „Ich habe mir keine Gedanken gemacht, und ich glaube, es ist das Beste, den Kopf auszuschalten.“

Mit und hinter ihr kamen die stärksten von knapp 44.000 Hobbyläufern ins Ziel: ein Volksfest des Laufens, ein Karneval des Sports. Das vielbeschworene Leid erlebten diesmal die Besten.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 24. September 2017

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

 

author: GRR

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