Blog
03
09
2023

Neeraj Chopra - Olympiasieger im Speerwerfen - T-shirt Graphik:: Athletics Federation of India

„Null Medaillen – das ist bitter“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Klaus Bartonietz trainiert den indischen Speerwurf-Weltmeister Neeraj Chopra. Im Interview spricht er über neue globale Kräfteverhältnisse – und deutsche Versäumnisse.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Bartonietz. Olympiasieger Neeraj Chopra ist der erste Leichtathletik-Weltmeister Indiens. Auf Platz zwei gewinnt Arshad Nadeem die erste WM-Medaille für Pakistan. Das Speerwerfen hat früher praktisch Finnen, Tschechen und Deutschen gehört. Was ist passiert?

Die anderen sind halt auch groß geworden im Zuge der Globalisierung, des Wissenstransfers. Früher haben wir von den Traditionen gelebt: deutsches Turnwesen, Gymnastik. Die Basis des Sports in der Welt hat sich ein bisschen verbreitert.

Sie haben den Wissenstransfer tatkräftig mitbetrieben. Sie sind der Trainer von Chopra und in Indien bekannt als Dr. Klaus. Sind die Erfolge von Chopra und die Qualifikation von inzwischen drei indischen Speerwerfern fürs Finale ein Zeichen des Aufbruchs?

Neeraj hatte zuerst einen australischen Coach. 2017 ging Uwe Hohn, der Weltrekordler mit 104,80 Metern, nach Indien. Ich wurde sein Assistent. Chopra war damals schon U-20-Weltmeister und -Weltrekordler. Ich wurde 2019 sein Trainer. Auf dem Niveau von 70 bis 75 Meter hatten wir seit einigen Jahren einige Werfer. In Chopras Sog übertreffen sie jetzt 80 Meter.

Was passiert, wenn ein Volk von 1,5 Milliarden Menschen die Leichtathletik entdeckt?

So richtig entdeckt haben sie sie noch nicht. Viel beliebter ist immer noch Kricket. Die dort werfen, könnten alle klasse Speerwerfer sein. Aber so ist nun mal die Tradition in Indien, und sie verdienen im Kricket deutlich mehr. Die Frauen partizipieren nicht angemessen. Das muss man kritisch sagen. Das ist ein soziales Problem.

Wacht, was den Sport angeht, der schlafende Riese Indien auf?

Der Staat steckt viel Geld rein, und mindestens zwei der großen Unternehmen engagieren sich als Sponsoren: JSW, ein Stahlproduzent, und Reliance Foundation, die Stiftung eines riesigen Konglomerats. Sie unterstützen die Sportmedizin, Physiotherapie und die Trainer. Das zeigt Wirkung.

Stimmt es, dass Chopra so berühmt ist, dass er nicht mehr im eigenen Land trainieren kann?

Man darf sich nicht abkapseln, dann ist man unten durch. Politik, Medien, Freunde, Verwandte – sie alle wollen ihren Anteil an seiner Zeit und seinem Leben. Das ist verrückt. Er wird geradezu fanatisch gefeiert. Deshalb haben wir im Winter in Loughborough in England trainiert, dort gibt es eine tolle Halle. Danach waren wir in Potchefstroom in Südafrika und dann in Belek in der Türkei. Dort hat Neeraj sich eine Leistenzerrung geholt. Das hat das Training, nach einem sehr starken Auftakt in der Diamond League in Doha, eher in den Reha-Bereich verlagert. Seit Mai konnten wir nur fünf Wurfeinheiten machen.

Sie haben bis zum Ruhestand im deutschen Sport gearbeitet. Wie war Ihr Weg?

Ich habe Sport studiert in Halle und hatte von 1972 bis 1975 die Gelegenheit, eine Aspirantur im Biomechanik-Labor des Zentralinstituts für Körperkultur in Moskau zu machen. Danach war ich an der FKS in Leipzig, dem heutigen IAT (Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport, Institut für Angewandte Trainingswissenschaft, d. Red.), für den Wurf verantwortlich und habe im Mehrkampf gearbeitet. Nach fünfzehn Jahren kam die Wende, und ich bin an den Olympiastützpunkt Rheinland-Pfalz/Saarland gewechselt. Dort habe ich zehn Jahre lang Boris Henry, den heutigen Bundestrainer Boris Obergföll, trainiert. Das ist die Ironie des Schicksals, dass mein Athlet heute seine Athleten besiegt.

Auch Julian Weber, die letzte Hoffnung der deutschen Leichtathleten, hat am Sonntagabend in Budapest keine Medaille gewonnen, sondern wurde Vierter. Kann es sein, dass der deutsche Sport davon überrascht wurde, dass Topleistungen seiner Athleten nicht mehr für Medaillen reichen?

Das ließ sich im Vorfeld absehen. So überrascht können sie nicht sein. Viele ihrer Besten waren verletzt: Vetter, Hofmann, Mihambo et cetera. Außerdem haben sie starken Nachwuchs.

Ist Indien ein Beispiel dafür, wie die Welt sich im Spitzensport engagiert?

Viel Geld vom Staat und private Mittel – Indien kann sich das leisten. Jetzt sind sie auch noch auf dem Mond gelandet. Das ist nicht mit anderen Ländern vergleichbar. Sozial habe ich so meine Probleme mit Indien, der größten Demokratie der Welt, wie wir immer sagen. Der Abstand zwischen Reich und Arm ist gigantisch. Was die Bedeutung angeht, die der Staat dem Sport gibt, lässt ein bisschen die DDR grüßen. Auch was die Identifikation nach außen angeht.

Also eher nichts, von dem die Deutschen lernen sollten?

Niemand wird bereit sein, so viel Geld zu investieren. Die Effizienz stimmt; das mit den Spitzenathleten klappt. Aber so, wie dort manchmal trainiert wird, dazu wäre kein Deutscher bereit. In anderen Sportarten gehen die Sportler zur Schule, in der Leichtathletik spielt das keine Rolle. Einer meiner Speerwerfer hat siebenmal die Schule gewechselt, weil er geschlagen wurde. Auf dem Land passieren solche Sachen.

Was denken Sie, wenn Sie aufs Abschneiden der Deutschen schauen?

Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Die Frage ist: Wo setzen wir Prioritäten? Es gibt keine mehr, es gibt so vieles. Die Trend-Sportarten sind auf dem Vormarsch. Wir haben in der Schweiz gesehen, wie sie beim Ski-Cross zu viert nebeneinander den Berg runter sind.

Verzettelt sich der Sport?

Kann sein. Ob dazu das Selbstdarstellerische der Sportler hilfreich ist, das Bemühen um möglichst viele Klickzahlen? Als Trainer finde ich das nicht so gut. Anderseits: Topathleten sind Persönlichkeiten wie Neeraj, nicht angepasst, aber sie setzen sich durch. Ein Verband will keine Kritik; er will sagen, wo es langgeht. Hier haben wir das Ergebnis des Trainingsprozesses gesehen. Neeraj hatte nur zwei Wettkämpfe vor der WM. Das zeigt: Vielleicht ist weniger mehr. Also im Hinblick auf die Spitzenleute in der deutschen Mannschaft ist Paris noch nicht verloren.

Ist die deutsche Leichtathletik in der Krise?

Vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit: ja. Null Medaillen, das ist bitter. Von den Auswirkungen der harten Auseinandersetzung im Ost-West-Konflikt früher lebe ich heute noch. Sie haben uns das Wissen und den Vorsprung beim Know-how gebracht.

Das Gespräch führte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dienstag, dem 29. August 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

https://germanroadraces.de/?p=221196

 

author: GRR