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08
2023

Melat Kejeta auf dem Weg zu einem starken elften Platz in Budapest. - Foto: www.photorun.net 2023 World Championships Budapest, Hungary August 19-27, 2023 Photo: Victah Sailer@PhotoRun

Nichts als Spesen? Bei der Leichtathletik-WM in Budapest 2023 werden die Deutschen abgehängt. Die Leistungsexplosion der Konkurrenz ist nur eine Erklärung. Michael Reinsch, Budapest in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Als auch noch die Medaillen der Zehnkämpfer ausblieben, hatte es ein Ende mit dem Lob für persönliche Bestleistungen und aufopferungsvoll erkämpfte fünfte Plätze.

Der Europameister und ehemalige Weltmeister Niklas Kaul verletzt ausgeschieden, der zuvor Jahresbeste Leo Neugebauer von seinen Nerven und gleich vier Konkurrenten geschlagen. Acht von neun Tagen der Leichtathletik-Weltmeisterschaft von Budapest waren ohne einen einzigen Sieg deutscher Leichtathleten vergangen.

Da rief Jörg Bügner, der neue Sportdirektor des Verbandes DLV, das Ende der Zufriedenheit aus. In einstigen Paradedisziplinen wie Kugelstoßen, Diskus- und Hammerwerfen seien deutsche Athleten nicht mehr präsent, klagte er, Disziplinen der Mittelstrecke fänden ohne deutsche Beteiligung statt. „Wir fahren mit einem Riesenpaket von Aufgaben nach Hause“, sagte er gegenüber der F.A.Z., noch bevor mit Speerwerfer Julian Weber, der am Sonntagabend Vierter wurde, auch der letzte Medaillenkandidat leer ausgegangen war: „Ich freue mich über persönliche Bestleistungen einzelner Athleten“, sagte der Sportwissenschaftler: „Aber ich bin nicht zufrieden.“

Der Abwärtstrend der deutschen Leichtathletik ist in der Führung angekommen.

Vor zwei Jahren warf der frühere Bundestrainer Jürgen Mallow dem Verband in der F.A.Z. „den totalen Absturz“ bei den Olympischen Spielen von Tokio vor. Dort wie bei der WM von Eugene 2022 siegte aus dem deutschen Team allein die derzeit verletzte Weitspringerin Malaika Mihambo. Die Zahl der Medaillen sank von drei auf zwei. Zwar erlebten die Leichtathleten bei der Europameisterschaft von München ein Fest mit sieben Titeln und 16 Medaillen. Doch nun bei der WM in Budapest fehlt Mihambo, der nächste Tiefpunkt scheint erreicht.

Chef-Bundestrainerin Annett Stein sprach noch am Mittwoch davon, dass das deutsche Team einen sehr, sehr guten Start geliefert habe.

Als Bügner am Sonntag in Budapest „starke strukturelle Änderungen“ ankündigte, unterstützte ihn Verbandspräsident Jürgen Kessing mit der Ankündigung, der Umbau werde womöglich bis zu eine Athletengeneration lang dauern. Der Tiefpunkt des deutschen Spitzensports sei im nächsten Jahr zu erwarten, dem Jahr der Olympischen Spiele von Paris. Bügner beeilte sich zu versichern, dass keine verlorene Generation von Athleten zu befürchten sei. Er sehe im Verband einen hohen Änderungs- und Reformwillen, könne sogar auf eine Analyse zurückgreifen, die bereits im Herbst, also Monate vor seinem Dienstbeginn in der Verbandszentrale in Darmstadt, erstellt wurde. Gleichwohl fiel auf, dass die Chefbundestrainerin bei der Ankündigung des neuen starken Mannes im Verband fehlte, ebenso wie der Vorstandsvorsitzende Idriss Gonschinska.

Auch die Athleten waren zu anderen Erkenntnissen gekommen als Stein.

Kristin Pudenz, die beste deutsche Diskuswerferin, hat seit der Silbermedaille von den Olympischen Spielen von Tokio 2021 nichts mehr im globalen Wettbewerb gewonnen. In Budapest erlebte sie, wie die Niederländerin Jorinde van Klinken, obwohl sie 67 Meter übertraf, ohne Medaille blieb. Die Amerikanerinnen Laulauga Tausaga und Valarie Allman machten mit Würfen über 69 Meter den Sieg unter sich aus. „Wir müssen daraus die Lehre ziehen, dass wir dies nächstes Jahr in Paris auch schaffen“, sagte Pudenz. Franka Dietzsch hätte mit keiner Siegweite ihrer drei Titelgewinne 1999, 2005 und 2007 in Budapest auch nur eine Medaille gewonnen.

Bei den Männern konterte der Schwede Daniel Ståhl einen Wurf des Tschechen Kristjan Ceh auf 70,02 Meter mit einem Hieb von 71,46 Metern. Weder Lars Riedel noch Robert noch Christoph Harting kamen bei ihren zusammen drei Olympiasiegen und acht Weltmeisterschaftssiegen auf einen einzigen Wurf von siebzig Metern. Im Kugelstoßen der Männer übertrafen die ersten vier 22 Meter. Ryan Crouser siegte mit 23,51 Metern. David Storl wäre mit den Resultaten seiner beiden Triumphe bei Weltmeisterschaften Fünfter geworden.

Gewiss, die deutsche Mannschaft war in Budapest von Ausfällen betroffen, als herrschte eine Epidemie. Neben Mihambo fehlten ein halbes Dutzend Speerwerferinnen und Speerwerfer, unter ihnen Olympiasieger Thomas Röhler und der ehemalige Weltmeister Johannes Vetter, zudem die Europameisterin und Weltmeisterschafts-Dritte im 5000-Meter-Lauf, Konstanze Klosterhalfen, und noch einige mehr. Erklärt dies das Tief des Verbandes, den das staatliche Potenzialanalysesystem (PotAS) vor zwei Jahren zur Nummer eins der Sommersportarten erklärt hat und der noch vor einem Jahr ankündigte, bei den Olympischen Spielen 2028 zu den stärksten fünf gehören zu wollen? Immerhin siebzig Sportlerinnen und Sportler hatte der DLV für die Titelkämpfe an der Donau aufgeboten,

„Ich glaube, wir sind gerade in einem Wandel, dass in der Welt auf den 400 Meter ganz schön was abgeht“, sagte Läufer Manuel Sanders, als er mit der Staffel trotz einer Zeit von 3:00,67 Minuten den Endlauf verpasst hatte: „Vielleicht ist das trainingsmethodisch bedingt, vielleicht tragen die Schuhe dazu bei.“ Auf den Unterschied zwischen dem, was deutsche Leichtathleten leisten können, und dem, was an der Weltspitze für Resultate erzielt werden, wies leidenschaftlich der Geher und Mannschaftskapitän des deutschen Teams, Christopher Linke, hin.

Bei tropischen Temperaturen unterbot er die deutschen Rekorde über 20 und 35 Kilometer, wurde jedoch beide Male lediglich Fünfter. „Diejenigen, von denen Medaillen erwartet wurden, haben Topleistungen gebracht“, sagt er: „Und andere waren besser.“

Athleten aus 46 Ländern haben bei der WM bisher Medaillen gewonnen.

Sie sind die Unbekannten in der Rechnung, die Leistungssportstrategen etwa mit der anhaltenden Reform des Spitzensports in Deutschland aufmachen. Sie belegen, dass sich Erfolg nicht planen lässt. „Wie hat die Welt sich entwickelt? Da müssen wir etwas verpasst haben“, sagt Linke rätselnd: „Wir müssen in unserem Denken von den Medaillen wegkommen und uns stattdessen Ziele setzen, die realistisch sind.“ Sprinterin Gina Lückenkemper widersprach dem Eindruck, das inoffizielle Motto der deutschen Mannschaft laute: alles gegeben, nichts erreicht. „Leistungen wie die von Christopher Linke, die jahrelang eine Medaille gebracht hätten, reichen auf einmal nicht mehr. Es gibt eine extreme Leistungsentwicklung.“

Trainer Wolfgang Heinig kommentiert den Mangel an Medaillen trocken: „Ein Zeichen dafür, dass wir zu schwach sind.“

Mit den Marathonläuferinnen Katrin Dörre und Katharina Steinruck, seiner Frau und seiner Tochter, sowie mit der Hindernisläuferin Gesa Krause hatte Heinig große Erfolge. Seit sechs Jahren ist er Rentner, doch längst nicht im Ruhestand. Was er früher als Leitender Bundestrainer und Landestrainer für seine Athleten tat, tut er für diese nun in einer privaten Trainingsgruppe in Frankfurt. Gesa Krause, die zweimalige Europameisterin und zweimalige Weltmeisterschafts-Dritte, gehört ihr an, ihre Trainingspartnerinnen, die slowenische Läuferin Marusa Mismas und die 21 Jahre alte Olivia Gürth, U-20-Europameisterin von 2021 und U-23-Europameisterin dieses Jahres, hatten beide den Hindernis-Endlauf am Sonntagabend erreicht, wurden dort Sechste und 14.

Man sollte meinen, dass der Leichtathletik-Verband einen Erfolgstrainer wie Heinig mit solchem Talent wie Gürth im Team hofierte. Doch eine WM-Akkreditierung war für den Meistermacher nicht drin. „Jetzt bin ich halt als Slowene hier„, sagt Heinig. Er bestätigt, dass der DLV mit ihm über eine Beschäftigung als Berater verhandelt. Der widersprüchliche Eindruck – hier keine Unterstützung, dort der Wille zur Kooperation – macht deutlich, an wie vielen Fronten der DLV kämpft. In den vier Jahren zwischen Olympia in Paris und den Spielen von Los Angeles 2028 werden rund zwanzig seiner siebzig Bundestrainer das Rentenalter erreichen. Sie brauchen Nachfolger, ihre Erfahrung soll dem Verband erhalten bleiben.

„Vielleicht muss man die Bedeutung des Medaillenspiegels relativieren“, sagt Heike Drechsler, die vor 25 Jahren in Budapest Weitsprung-Europameisterin wurde und die WM besucht: „Es fehlt an Geld für Trainer, für Sportlehrer, für Sport an der Basis. Dies drückt den geringen Stellenwert des Sports in der Gesellschaft aus. Er verhindert, dass Kinder in der Breite grundlegende Bewegungen lernen. Wie sollen da einzelne den Weg an die Spitze finden?“

Heike Drechsler ist sich einig mit Kessing, der „gern die ein oder andere Milliarde“ vom Staat dafür ausgegeben sähe, Kinder durch Sport stark zu machen. Der Hinweis entbehrt gleichwohl nicht einer profunden Ironie. Heike Drechsler gehörte, bevor sie 1992 und 2000 Olympiasiegerin im Weitsprung wurde, der Auswahl der DDR an, die mit dem politischen Auftrag in den Wettbewerb ging, mit Siegen die Überlegenheit des Sozialismus zu beweisen.

Nun weist das schwache Abschneiden der Nationalmannschaft darauf hin, dass das vereinte Deutschland in Bezug auf Sport und Bewegung ein Problem hat, das die Gesellschaft zu verantworten hat.

 Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 28. August 2023 

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR