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21
06
2023

Eine der ungewöhnlichsten medizinischen Einrichtungen Berlins befindet sich am Eingang Süd des Messegeländes. „Healthy Athletes - Foto: Horst Milde

Hilfe bei Special Olympics: „Wir müssen uns kümmern“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Teilnehmer bei den Special Olympics: 7000 Sportler machen mit. 

Viele Sportler mit Behinderung erfahren bei den Special Olympics erstmals eine gründliche ärztliche Untersuchung. Diagnose und Therapie sollen wettmachen, was ihnen an gesundheitlicher Versorgung fehlt.

Eine der ungewöhnlichsten medizinischen Einrichtungen Berlins befindet sich am Eingang Süd des Messegeländes. „Healthy Athletes“ steht dort am CityCube, der Veranstaltungshalle, und in dichten Trauben ziehen Teilnehmer der Special Olympics zu den Eingängen.

Manche von ihnen erhalten dort die erste medizinische Untersuchung ihres Lebens. Brillen werden angepasst, in Auftrag gegeben, Hörgeräte verpasst. Rund tausend Sportlerinnen und Sportler unterziehen sich hier täglich sieben verschiedenen Untersuchungen mit so freundlichen Namen wie Healthy Promotion, Opening Eyes, Special Smiles und Strong Minds.

Zweitausend Freiwillige, hundert Ärzte

Diagnose und Therapie sollen wettmachen, was an ihrer gesundheitlichen Versorgung fehlt. Zweitausend Freiwillige, unter ihnen hundert Ärzte, siebzig Zahnärzte und 700 Studenten, schaffen Vorsorge und Versorgung, die von der Vermittlung einfacher physiotherapeutischen Übungen bis zur Akutbehandlung reicht. Ein Athlet aus Afrika mit stark entzündetem Abszess an den Zähnen wurde direkt aus dem Cube in die Zahnarztpraxis gefahren. Mehr als ein Drittel der Athleten bestreiten ihre Wettkämpfe in zu großen oder zu kleinen Schuhen. Vor vier Jahren in Abu Dhabi erhielten sie kostenlos passendes Schuhwerk. Dafür fehlt diesmal der Sponsor.

„Das Programm hat einen unglaublichen Effekt“, sagt Annemarie Hill, zuständig für Gesundheit bei der Special Olympics-Weltorganisation. Menschen mit geistigen Einschränkungen wie die Athleten der Special Olympics haben großen Bedarf an Betreuung nicht wegen ihres Zustandes, sondern weil viele keinen Zugang zu Ärzten und medizinischen Einrichtungen haben. Die Helfer in Berlin tragen keine weißen Kittel, um Schwellenangst zu verhindern.

Die 7000 Sportler, die aus aller Welt nach Berlin gekommen sind, die 4000 Aktiven, die Special Olympics Deutschland insgesamt als seine Athleten betrachtet, sind die Spitze des Eisberges, die sichtbaren Vertreter der 420.000 Menschen allein in Deutschland mit unterschiedlicher geistiger Entwicklung. Neben Behandlung sind Prävention und Aufklärung wichtig für sie. Es gelte, Eigenverantwortung zu ermöglichen und Selbstwirksamkeit zu stärken, sagt Imke Kaschke, die nach 24 Jahren an der Charité Berlin, zuletzt als Oberärztin, Gesundheitswissenschaftlerin und als solche Direktorin für Gesundheit der Special Olympics Deutschland geworden ist. Eine Aufgabe nicht nur für Großereignisse.

Diagnose und Therapie sollen wettmachen, was an ihrer gesundheitlichen Versorgung fehlt. – Foto: Horst Milde

Der Sport eröffnet Hilfe

Die Pandemie hat insbesondere Menschen mit eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten in die Isolation gezwungen – sie durften ihre Wohnheime nicht verlassen, ihre Werkstätten nicht aufsuchen. Mehr gefährdet, in Angstzustände und Depression zu verfallen, als andere, bedürfen sie besonderer Aufmerksamkeit.

Der Sport eröffnet ihnen Hilfe. Die Website von Special Olympics Deutschland zum Beispiel ist die einzige, auf der – mit mehr als 150 Dokumenten – in Einfacher Sprache Informationen zu Gesundheit und Versorgung zu finden sind. Bei rund sieben Millionen funktionalen Analphabeten im Land ist dies ein weitreichendes Angebot. Die Projektfinanzierung durch das Gesundheits­ministerium läuft jedoch aus.

67 Prozent der Special-Olympics-Athleten sind fettleibig. Die Herausforderung laut Hill: „Wir müssen die Betroffenen nicht nur behandeln, wir müssen uns kümmern.“ Special Olympics kooperiert mit 150 Hochschulen. Renee Manfredi, Athleten-Botschafterin und mehrmalige Goldmedaillengewinnerin der Spiele aus Texas, weist darauf hin, dass Ärzte auf den Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung vorbereitet sein müssten. „Viele von uns sind noch nie einem Arzt begegnet, viele wollen nicht, dass sie schnell abgefertigt werden, sondern dass man sich Zeit für sie nimmt“, sagt sie am Montag in Berlin.

67 Prozent der Special-Olympics-Athleten sind fettleibig – Foto: Horst Milde

Kinderheilkunde sei eine gute Vorbereitung, da Betroffene sich auf unterschiedlichen geistigen Entwicklungsstufen befänden. Wunder Punkt: „Ärzte sollen auch auf uns Patienten hören, nicht nur nach Symptomen suchen.“ Auch im Verhältnis zu Medizinern spiegelt sich die Forderung, mit den Betroffenen zu sprechen, nicht allein über sie.

Die einstige Hürdensprinterin und Bobfahrerin Seun Adigun aus Nigeria, erste Afrikanerin, die an Olympischen Sommer- und Winterspielen teilgenommen hat und promovierte Chiropraktikerin ist, wirft der ärztlichen Profession gar „Ablehnung basierend auf Ignoranz“ vor.

Das müsse sich ändern: „Jetzt sofort“.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 20. Juni 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR