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01
02
2023

Michael Reinsch - Foto: Horst Milde

DESASTER IN DER LEICHTATHLETIK: „Ein Cocktail aus Wut, Hass und Hilflosigkeit“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Wegen einer Panne ihres Verbandes stehen 77 deutsche Leichtathletik-Talente plötzlich ohne Förderung da. Das führt zu sozialen Härtefällen. Die Folgen für den Sport könnten weitreichend sein.

Im Winter vergangenen Jahres entschied sich Alyssa John, hoch zu pokern: all in. Mit zwölf Jahren hatte sie Mutter und Schwester verlassen und war zur siebten Klasse ins Internat der Sportschule Potsdam gezogen. Nun stand das Abitur bevor, doch das Lernen, davon war sie überzeugt, hinderte sie am optimalen Training.

Und das war nötig, wollte sie sich im Speerwerfen für die U-20-Weltmeisterschaft in Cali in Kolumbien qualifizieren und dort gut abschneiden. Auch ihren Job als Pizzabotin gab sie auf. Im Sommer wechselte Alyssa John aus Potsdam zum SC Magdeburg, im Herbst wurde sie in den Perspektivkader des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) und in dessen Future Team berufen. „Ich habe mein ganzes Leben auf den Sport ausgerichtet“, sagt sie: „Ich dachte, die Aufnahme in den P-Kader ist der Start in mein Sportleben.“

Die Zukunft schien gesichert. „Ziel des Verbandes ist es, bis zu den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles international eine Top-Fünf-Platzierung der Nationenwertung zu erreichen“, verkündete der Verband im Dezember. Seine besten Sportlerinnen und Sportler würde er noch individueller und umfassender fördern.

„Meine Karriere steht auf der Kippe“

Daraus ist nichts geworden. Drei Wochen nach der vollmundigen Ansage des Verbandes erhielt Alyssa John von der Stiftung Deutsche Sporthilfe, die sich als Sozialwerk des Sports versteht, die Nachricht, dass sich ihre Hoffnung auf 700 Euro monatlicher Unterstützung, wie sie Mitgliedern des Perspektivkaders üblicherweise zustehen, nicht erfüllen würde. Der Verband habe so viele Kandidaten benannt, dass die Mittel der Sporthilfe dafür nicht ausreichten. Die Förderung von zweihundert Leichtathleten ist der Sporthilfe, wie in den vergangenen Jahren, möglich. 277 hat der Verband gemeldet.

Alyssa John ist eine von den 77, die nun nichts bekommen. „Ich weiß echt nicht, wie ich das stemmen soll“, sagt die Neunzehnjährige: „Meine Karriere steht auf der Kippe. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das Jahr ohne Unterstützung durchstehen, wie ich Leistung bringen, wie ich mich weiter ermutigen soll, diesen Sport zu machen, und am Ende nichts zu kriegen.“ Es fällt ihr schwer, über das Thema zu sprechen; sobald sie drüber nachdenke, sagt sie, müsse sie weinen. Finanziell sei sie jeden Monat am Limit und krass angewiesen auf ihre alleinerziehende Mutter.

Athletensprecherin Nadine Hildebrand und ihr Vertreter Max Thorwirth prognostizieren der Verbandsführung weitreichende Folgen dieses Scheiterns, zumal mehrheitlich Sportlerinnen und Sportler unter 23 Jahre betroffen sind. Ihr Brief macht deutlich, dass Alyssa John kein Einzelfall ist. „Viele dieser Athleten haben speziell für den Sport einen Wohnortwechsel vorgenommen oder befinden sich gleichzeitig in einem zeitintensiven Studium“, heißt es darin: „Diese Athleten werden jetzt komplett eigenständig unter hoher zeitlicher Belastung für ihr Einkommen sorgen müssen, damit sie ihren Sport weiter betreiben können – und dies in der aktuell wirtschaftlich angespannten Lage. Oder sie werden aufhören.“

Weiter: „Mit welcher Nationalmannschaft möchte der DLV 2028 noch antreten, wenn nun vielversprechende U-23-Athleten ihre Karriere beenden beziehungsweise nur unter großer Kraftanstrengung abseits von Training und Wettkampf, die finanzielle Grundlage ihrer Spitzensport-Existenz sichern müssen?“

Leichtathletikverband und Sporthilfe geben sich auf Anfrage optimistisch. Der Leichtathletik-Verband teilt mit, dass am Donnerstag, offenbar im Gespräch zwischen den Vorstandsvorsitzenden Idriss Gonschinska (DLV) und Thomas Berlemann (Sporthilfe), eine Lösung gefunden worden und diese von der Sporthilfe beschlossen worden sei. Die Sporthilfe teilt mit, dass „in intensivem und partnerschaftlichem Austausch eine Lösung in Sinne der betroffenen Leichtathlet:innen gefunden“ sei: eine auf ein Jahr begrenzte, individuelle finanzielle Förderung durch Sporthilfe und DLV.

Wie konnte es zur Panne kommen?

Dem Vernehmen nach steht der Verband in Verhandlungen mit einem neuen Sponsor. Die 500.000 bis 800.000 Euro, die überschlägig für die Förderung von 77 Athleten mit je 300 (Sportsoldaten), 700 oder 1000 Euro (Studenten) monatlich notwendig sind, werden voraussichtlich nicht zusammenkommen. Die Ankündigung, die 77 Betroffenen mit Versicherungsschutz und Maßnahmen zur dualen Karriere zu bedenken, sie zu Trainingslagern, Leistungsdiagnostik, Physiotherapie, Nutzung der Olympiastützpunkte einzuladen, spricht weniger von sozialer Sicherheit, sondern macht vielmehr die prekäre Lage von Nachwuchsathleten deutlich.

Wie es zu der eklatanten Förderpanne kommen konnte?

Erst im Vorfeld der Tagung ihres Gutachterausschusses im Dezember habe die Sporthilfe von der Vergrößerung des Kaders um 77 Athleten erfahren, sagt diese. „Die damit verbundenen Auswirkungen auf das Förderbudget der Sporthilfe wurden bei der Entscheidung zwischen DLV und DOSB zur Erhöhung der Anzahl der Perspektivkader nicht ausreichend berücksichtigt.“ Klingt, als hätten Fachverband und Dachverband sich geeinigt zu Lasten eines Dritten, der Sporthilfe. Der DLV verweist auf die positive Leistungsentwicklungen im Nachwuchsbereich. Der DOSB sei über den Aufwuchs im Juni informiert worden und habe die entsprechende Liste Ende Oktober genehmigt.

„Das würde die Athleten spalten“

Wie man die Affäre dreht und wendet, sie zeugt von einem Kommunikationsdesaster. Ja, es zeigt sich Respekt darin, dass die junge Mutter Cindy Roleder, 2015 Weltmeisterschafts-Zweite im Hürdensprint, und Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler, dem in der vergangenen Saison so gut wie nichts gelang, weiterhin dem Kader angehören. Das Gegenteil allerdings gilt für den Fall des jungen Athleten, der vor Weihnachten besorgt seinen Verband anrief, weil seine Eltern ihn wegen Krankheit nicht unterstützen können und zwei Jobs ihn nicht über Wasser halten.

Keiner werde leer ausgehen, versicherte dem Neunzehnjährigen sein Gesprächspartner am Verbandsitz in Darmstadt. Als die Sporthilfe am 13. Januar dennoch mitteilte, dass er in die Röhre gucken würde, durchströmte ihn, wie er es beschreibt „ein Gefühls-Cocktail aus Wut, Hass, Enttäuschung und einem ganzen Stück Hilflosigkeit“. Er macht kein Geheimnis daraus, dass er die ein oder andere Träne vergossen hat. „Ich bin in ein Riesenloch gefallen“, sagt er. Seine Situation will er nicht in allen Details beschreiben. „Man kann die Härtefälle nicht gegeneinander abwägen“, sagt er: „Das würde die Athleten spalten.“

„So wird das mit Spitzensport nichts“

Der Schaden für die Leichtathletik und die einzelnen Athleten ist immens. Nicht umsonst fördern Sporthilfe und Verbände die duale Karriere. Der Horizont der Sportlerinnen und Sportler soll über den Sport hinaus reichen, sie sollen sich nicht vom Erfolg ihrer Sportkarriere abhängig machen. Die unglücklichen 77 Talente werden nun dazu getrieben, für die Miete und den Lebensunterhalt zu kellnern, im Fitnessstudio zu jobben, Pizza auszufahren. Ob das mehr dem Sport schadet oder dem Studium, ist einerlei; es kostet Kraft und Zeit.

Um Ranglistenpunkte zu erkämpfen, reisen Athleten von Wettkampf zu Wettkampf. Trainingslager, selbst wenn der Verband seine Kaderathleten einlädt, sind nicht kostenlos; ein Berliner Sprinter rechnet vor, dass ihn zwei Camps 1800 Euro kosten. Eine Läuferin fragt ihren Trainer, ob sie ihre Zusage zum Trainingslager stornieren könne. Wäre sie noch beim Nachwuchs und nicht dank guter Leistungen in den Perspektivkader aufgestiegen, würde sie immerhin mit 200 Euro pro Monat gefördert statt mit null. „Wollen wir, können wir jungen Leuten noch die Perspektive Leistungssport bieten?“ fragt ein Trainer, der in Berlin mit dem Nachwuchs arbeitet. Und antwortet: „So wird das mit dem Spitzensport nichts mehr.“

„Ich kriege einen Tritt in den Hintern“

Eine Dimension der Affäre geht weit über das Materielle hinaus. „Athleten fühlen sich im Stich gelassen, insbesondere weil keinerlei Entschuldigung, Erklärung oder nicht einmal eine persönliche Kontaktaufnahme erfolgt ist“, heißt es im Brief von Athletenvertreter Nadine Hildebrand. Sie fühlten sich getäuscht und hätte Vertrauen in den Verband verloren. A

lyssa John sagt es so: „Über das Fehlen des Geldes hinaus verletzt mich, dass der DLV uns nicht unterstützt. Ich habe alles gegeben und gezeigt, was ich kann. Was ich zurückkriege, ist ein Tritt in den Hintern.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 30. Januar 2023

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

 

author: GRR