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20
08
2022

Matthias Brandt: Blackbird. Roman. 3. Auflage. Köln 2020: Kiepenheuer & Witsch. 274 S.; 22,- €.

Lauflesetipps für den Sommer (Teil III): Matthias Brandt: Blackbird. Kiepenheuer & Witsch

By GRR 0

Sommerzeit ist Lesezeit. Wer wollte sich nicht an diesen (Urlaubs-)Tagen mit Muße dem widmen, was sonst im Alltag zu kurz kommt – neben dem regelmäßigen Laufen: nämlich z.B. Bücher über das Laufen zu lesen!

Unser Laufliteratur-Experte Prof. Dr. Detlef Kuhlmann (im Hauptberuf Sportpädagoge an der Leibniz Universität Hannover und seit 1990 ehrenamtlicher Leiter des Literatur-Marathons beim BERLIN-MARATHON) stellt in lockerer Folge neuere und (fast) vergessene Laufbücher vor – so ganz nach dem Motto: Wer vieles bietet, bietet manchem etwas: Nur lesen müssen alle dann selbst … am Ende der Serie stehen sieben Titel zur Auswahl!

Wie Walki den Stadtrekord auf der Zielgeraden verpasst …

Soviel vorweg: „Blackbird“ ist ein Roman, kein Laufbuch … aber: Es geht streckenweise um das Laufen, an einer Stelle sogar um ein ganz besonderes Rennen, das vermutlich so niemand von uns schon einmal erlebt hat. Doch dazu später – erstmal ganz was anderes: Mit dem Namen Willy Brandt (1913-1992) können alle noch etwas anfangen. Willy Brandt war von 1969 bis 1974 der vierte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, und zwar erstmals in einer sozialliberalen Koalition. Matthias Brandt (geb.1961) ist der jüngste Sohn von Willy. Matthias Brandt kennen auch fast alle. Er ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Matthias Brandt, der in Berlin geboren wurde und in Bonn aufwuchs, hat sich inzwischen aber auch einen Namen als „junger“ Schriftsteller gemacht.

Er debütierte im Jahre 2016 mit dem (Jugend-) Roman „Raumpatrouille“. Jetzt ist „Blackbird“ erschienen. Beiden Romanen gemein ist, dass sie in den 1970er Jahren und in der Hauptstadt der (alten) Bundesrepublik (also in Bonn) spielen und vom Erwachsenenwerden handeln. Bei „Blackbird“ ist der 15-jährige Morten Schumacher, genannt Motte, die jugendliche Hauptfigur und quasi das alter ego vom damals etwa 15-jährigen Matthias.

Und was hat „Blackbird“ nun mit Laufen zu tun?

Auf den ersten Blick gar nichts. Wer aber den Roman zu lesen beginnt, der wird immerhin schon auf Seite neun und dann ein paar Seiten später feststellen, dass der Autor das Sportmotiv zwischendurch immer wieder einspielt. Die „sportbetonte“ Schlüsselszene lesen wir in Kapitel 10, ganz genau so etwa ab Seite 132, die handelt dann endgültig und zweifelsfrei vom Laufen und geht so: Wir befinden uns jetzt im Schulsport, zwar nicht direkt in einer Sportunterrichtsstunde von Morten, sondern „bei einer freiwilligen Nachprüfung“ von Mitschüler Walkenhorst, der zu einem 5.000m Lauf antreten möchte, um seine Note zu verbessern. Schlüsselfigur in der Schlüsselszene ist neben Walkenhorst jedoch der alte und strenge Erdkunde- und Sportlehrer Kragler, den uns der Autor Matthias Brandt schon vorher kurz vorgestellt hatte.

In Kraglers Sportunterrichtsstunden geht es eigentlich mehr um „Leibesertüchtigung“ – denn wie sagte (nein: „brüllte“) Kragler doch gleich: „So Freunde, Körperschule!“ Und dann mussten alle ihre Runden um den Platz drehen. Und wie begrüßte doch Kragler gleich Morten, wenn dieser mal wieder zu spät kam: „Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit, Schumacher“. Oberstudienrat Kragler hatte einen Spitznamen bei den Schülern. Für sie war er der „Nazikragler“.

Zurück zur Nachprüfung und mitten hinein in das 5.000-m-Rennen von Schüler Walkenhorst: „Walki rannte wie der Teufel, und Kragler war mächtig stolz darauf … Rekord, der Lorbass läuft Rekord … Klingeling, Walkenhorst! Rekord! Letzte Runde, jetzt noch mal Kasalla!“, feuerte ihn Kragler lauthals an. Und dann ereignet sich 50m vor dem Ziel das Unglaubliche: Walki bleibt auf der Zielgeraden einfach stehen, läuft nicht weiter bis in das Ziel. Es kommt zu einem Wortgefecht zwischen ihm und Kragler. Morten, der das ganze nur aus sicherer Ferne beobachtet, bringt die Szene eine Seite später so auf den Punkt: „Walki hat den Kragler besiegt“.

Aus dem neuen Stadtrekord, den Sportlehrer Kragler sich selbst so gern auf die Fahnen geschrieben hätte, ist nichts geworden. Die verwirkte Lauf-Leistung von Walki erinnert so ein bisschen an die Schlüsselszene in dem Roman des englischen Schriftstellers Alan Sillitoe (1928-2010) über „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“, in dem die Hauptfigur Colin Smith ebenfalls kurz vor dem Ziel eines Wettkampfes als sicherer Sieger einfach ganz langsam läuft und die Konkurrenten der Reihe nach an sich vorbeiziehen lässt, ganz zum Entsetzen seines Trainers, dem Heimleiter der Erziehungsanstalt.

Es gibt noch eine andere Stelle in dem wunderbaren Roman von Matthias Brandt, wo der Autor bzw. seine Hauptfigur ins Laufen kommt, ihm das laufen immer anstrengender wird und er am Ende überzeugt feststellt: „Ich war so schnell und lange gerannt wie noch nie in meinem Leben“. Warum das Ganze? Hatte Motte jetzt einen Wettkampf, gar einen Marathon hinter sich, oder ist er „nur“ um sein Leben gerannt. Wer es genau wissen möchte, kann bei Seite 124 im Buch lesend einsteigen …

Matthias Brandt: Blackbird. Roman. 3. Auflage. Köln 2020: Kiepenheuer & Witsch. 274 S.; 22,- €.

Prof. Dr. Detlef Kuhlmann

Vom Autor der Serie zuletzt erschienen: Detlef Kuhlmann (Hg.): 100 Jahre Handball.50 handverlesene Texte zum Spiel. Hildesheim 2017: Arete-Verlag. 216 S.; 16,80 €.

author: GRR