Eine Rose am Denkmal für die ermordeten Juden Europas, - Foto: Bernd Hübner
Zehn Rosen, vierzehn Kilometer und fünfzehn Orte – Impressionen von ersten Erinnerungslauf am 9. November 2021 des LT Bernd Hübner Berlin von Dr. Erdmute Nieke
Es ist bereits dunkel, als sich am Rand des Berliner Tiergartens neun Läufer:innen und zwei Radfahrer:innen einfinden. Sie wollen nicht nur gemeinsam durch die Berliner Nacht laufen, sie haben auch zehn weiße Rosen dabei und starten einen Erinnerungslauf im Gedenken an die Reichspogromnacht vor 83 Jahren.
Der gemeinsame Lauf steht unter der Überschrift: Jüdisches Leben in der Berliner Mitte – gestern und heute.
Vielleicht eine noch ungewöhnliche Form des Erinnerns und Gedenkens. Unsere Stadt ist voller kleiner Gedenkorte, an denen viele Menschen im Alltag achtlos vorüber laufen, gewiss auch oft wir Läufer:innen. Wir verbinden an diesem besonderen Abend den sportlichen mit dem Erinnerungsaspekt und treffen auch auf Orte heutigen jüdischen Lebens in Berlin.
Auf unserer vierzehn Kilometer langen Strecke haben wir an fünfzehn Orten Station gemacht. Wir haben zehn weiße Rosen in Erinnerung an Menschen nieder gelegt, die in der Zeit des Nationalsozialismus ihre Existenz verloren haben, ins Exil fliehen mussten oder ermordet wurden, aber auch an Menschen, die Zivilcourage und Mut bewiesen haben und sich für ihre jüdischen Mitmenschen eingesetzt haben.
Diese Geschichten dürfen nicht in Vergessenheit geraten und sie dürfen sich nicht wiederholen. Deshalb – so waren sich alle Beteiligten einig – sollten wir die vielfältigsten Formen des Erinnerns gestalten.
Mit der ersten weißen Rose erinnerten wir uns an den Arzt und Juden Magnus Hirschfeld (1868-1935), der das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft gründete und die Begriffe des dritten Geschlechtes und des Transvestiten prägte. Sein Institut wurde 1933 von den Nazis zerstört. Magnus starb im Exil in Nizza.
Die zweite Rose erhält an die erste deutsche Medizinprofessorin und Jüdin Rahel Hirsch (1870-1953), die an der Charité und in Charlottenburg praktizierte und die genau vor 83 Jahren Berlin verließ um ihr Leben vor den Nazis zu retten. Freunde konnten sie noch warnen, dass ihr die Verhaftung drohe. Einsam, von Verfolgungsängsten geprägt, ohne wieder als Ärztin arbeiten zu dürfen, starb Rahel 1953 in der Nähe von London.
Eine Rose für Rahel Hirsch – Foto: Bernd Hübner
Die dritte Rose legen wir für Literaturnobelpreisträgern und Jüdin Nelly Sachs (1891-1970) nieder. Sie verließ Berlin und starb in Stockholm, Nellys Lebensthema war die Bewältigung des Verlustes von Heimat und Familie.
Die vierte Rose legen wir vor dem ältesten jüdischen Friedhof Berlins ab. Dieser wurde 1672 angelegt und 1943 geschändet. Das bekannteste Grab gehörte dem großen deutschen und jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1792-1786).
Die fünfte Rose widmen wir 600 mutigen, nichtjüdischen Frauen, die 1943 in der Rosenstraße eine Woche lang jeden Abend gegen die Inhaftierung ihrer jüdischen Ehemänner gewaltfrei protestieren und die Freilassung von 2000 Männern erreichen konnten.
Die sechste Rose stecken wir an das ehemalige Wohnhaus von Regina Jonas (1902-1944), sie war weltweit die erste Rabbinerin. Von 1935 bis 1942 konnte sie noch in Berlin arbeiten, dann wurde sie nach Thersienstadt deportiert, auch dort predigte sie weiter. 1944 wurde Regina in Auschwitz ermordet.
Eine Rose für Regina Jonas – Foto: Bernd Hübner
Die siebente Rose gehört Wilhelm Krützfeld (1880-1953), er war Reviervorsteher der Polizei im Berliner Scheunenviertel und lässt am Abend des 9. November 1938 den Brand an der Neuen Synagoge gegen die Anweisung der SA von der Feuerwehr löschen.
Mit der achten Rose erinnern wir uns an die Kindertransporte nach Großbritannien, nur zwölf Tage nach der Reichspogromnacht entschied das britische Parlament jüdische Kinder aufzunehmen. 10.000 Kinder konnten dadurch den Holocaust überleben, die meisten sahen ihre Eltern nie wieder. 1,5 Millionen Kinder wurden von den Nationalsozialisten ermordet.
Eine Rose in Erinnerung am Denkmal an die Kindertransporte am Bahnhof Friedrichstraße – Foto: Dr. Ursula Becher
Die neunte Rose legen wir am Stolperstein für den katholischen Priester und Domprobst der Hedwigskathedrale Bernhard Lichtenberg (1875-1943) nieder. Er betete öffentlich für die verfolgten Juden und wurde deshalb von der Gestapo verhaftet und verstarb auf dem Transport in das Konzentrationslager Dachau 1943. Papst Johannes Paul II. hat ihn 1996 in Berlin selig gesprochen. Die Gebeine des Seligen Bernhard befinden sich zur Zeit wegen der Sanierung der Hedwigskathedrale in der Kirche Maria-Regina-Martyrum in Plötzensee.
Mit der zehnten Rose gedenken wir der sechs Millionen Juden und Jüdinnen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Diese Rose legen wir auf eine Stehle des Holocaust-Mahnmals am Brandenburger Tor.
Dass es den Nationalsozialisten nicht gelungen ist, jüdisches Leben in Deutschland und in Berlin vollkommen zu vernichten, ist uns an den Orten heutigen jüdischen Lebens deutlich geworden. Wir haben jeweils einen Stop vor der Israelischen Synagogen-Gemeinde Adass Jisrael, vor dem Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn, vor dem Centrum Judaicum mit der Neuen Synagoge und dem Gebäude des Zentralrates der Juden in Deutschland im Leo-Baeck-Haus gemacht.
An der ehemaligen jüdischen Mädchenschule (1835 bis 1942) und am Denkmal der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 haben wir ebenfalls Pausen eingelegt.
Es war beim Laufen im Dunkeln sehr beeindruckend, wie im Scheunenvirtel, in dem besonders viele Juden und Jüdinnen lebten, an so vielen Stolpersteinen Kerzen brannten und Blumen lagen – eine stille und würdige Form der Erinnerung.
Nach dem Erinnerungslauf waren sich bei einem alkoholfreien Störtebecker und bei salzigen und schokoladigen Naschereien alle einig, dass es sich lohnt, auch bei kühlen Temperaturen an solch einem historischen Tag fünfzehn kurze Laufpausen einzulegen. Die Teilnehmer:innen erhielten am Ziel ein kleines Heft mit allen Texten zu den erzählten Geschichten.
Aufmerksame Zuhörer:innen – Foto: Bernd Hübner
Menschen und Orte vor dem Vergessen zu bewahren und eine Wiederholung dieser finsteren deutschen Geschichte zu verhindern – ein einzigartiger Grund zum Laufen.
Der Anfang ist gemacht! Am 9. November 2022 werden wir gewiss wieder Laufen und Erinnern verbinden. Denn es gibt noch viele Orte zu sehen und noch viele Geschichten zu erzählen!
Bleiben wir wachsam!
Dr. Erdmute Nieke