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2021

Auf der Zielgeraden: Robert Farken (SC DHfK Leipzig e.V.) gewinnt die 800m der Maenner; 5. Lange Laufnacht Karlsruhe am 15.05.2021 im Carl-Kaufmann-Stadion in Karlsruhe (Baden-Wuerttemberg) - Foto: Wilfried Raatz

BEDINGT INTERNATIONAL LEISTUNGSFÄHIG: Anmerkungen zur Perspektivkaderberufung des DLV – Von Dr. Wolfgang Blödorn

By GRR 0

Die Katze ist aus dem Sack!

Am 03. November veröffentlichte der Deutsche Leichtathletik Verband (DLV) auf leichtathletik.de die Liste der Berufungen in die DLV-Bundeskader für 2022. Insgesamt wurden 477 Athletinnen und Athleten berufen. 149 weitere Talente aus der U18-Klasse ergänzen diesen Bundeskader.

Für die Berufung der Kaderathleten zeichnen der Vorstand der DLV-Kommission Leistungssport, Idriss Gonschinska, und die DLV-Cheftrainerin Annett Stein, welche die Vorschläge der verantwortlichen Bundestrainer übernahmen, verantwortlich. Sie sind damit gegenüber dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und der interessierten Leichtathletiköffentlichkeit in der Rechenschaftspflicht.

Nicht nur die DLV-Kaderathleten, sondern auch die Bundestrainer und die DLV-Verwaltung werden u.a. aus Steuergeldern bezahlt. Sind diese Steuergelder gut angelegt, lautet in diesem Zusammenhang eine der Fragen. Die Beantwortung dieser Frage steht und fällt u.a. mit dem Erfolg der Perspektivkaderathleten der im Jahr der Europameisterschaften in München und den Weltmeisterschaften in Eugene/Oregon. Die Arbeitsleistung der für die Kaderberufung im DLV Verantwortlichen wird sich somit auch an den Erfolgen und Misserfolgen der DLV-Athleten in München und Eugene – wie auch in jedem anderen professionell geführten Unternehmen – messen lassen müssen.

Weitere Fragen lauten:

Haben die Verantwortlichen im DLV auf die vielfache Kritik an den Ergebnissen und der damit verbundenen Kritik an der Leistungsförderung im DLV von Tokio reagiert? Wurde die Kritik bei der Kaderberufung ernst genommen und berücksichtigt oder wurde diese einfach ignoriert? Gibt es strukturelle Veränderungen im Konzept zur Talentauswahl, Talententwicklung und Talentförderung? Auf die Antworten der DLV-Verantwortlichen wartet die interessierte Leichtathletiköffentlichkeit.

In den Perspektivkader (PK-Kader) werden Athleten aufgenommen – so die DLV-Kader-Richtlinien für den Kader 2022 -, die über eine erweiterte Finalplatzperspektive für die Olympischen Spiele 2024 und/oder Medaillen- und Finalperspektive und für die Olympischen Spiele 2028 verfügen. Weiterhin müssen die PK-Athleten die Prognose besitzen, im laufenden oder folgenden Olympiazyklus in den Olympiakader aufzusteigen. Ob diese Prognosen realistisch, optimistisch oder falsch sind, soll anhand des Beispiels der Perspektivkaders Mittelstrecke (800 m und 1500 m) unter wissenschaftlichen Aspekten beispielhaft überprüft werden.

Insgesamt befinden sich im gesamten Mittelstreckenkader 68 Läuferinnen und Läufer. Davon gehören 18 Läuferinnen und Läufer dem PK-Kader an. Über 800 m wurden fünf Männer und vier Frauen, über 1500 m vier Männer und fünf Frauen in den PK-Kader berufen. Bei der Prüfung der Berechtigung der Berufung in den Perspektivkader Mittelstrecke werden Läufer und Läuferinnen nicht gesondert betrachtet. Es sollen vielmehr Gemeinsamkeiten ihrer sportlichen Voraussetzungen zur Erfüllung der Forderungen an Perspektivkaderathleten herausgestellt werden.

Die Leistung auf einer Hauptstrecke ähnelt dem Belag eines Sandwiches. Wie man das Sandwich auch dreht und wendet, der Belag wird immer von unten und oben auf dem Sandwich gehalten. Für die Hauptstrecke als „Belag“ bedeutet dies, sie wird von der Unter- bzw. Überdistanz unterstützt. Ohne diese Unterstützung könnte sich die Hauptdistanz nicht entfalten. Unter- und Überdistanzleistungen wirken demnach auf die Hauptstrecke ein. Unter- und Überdistanzleistung stellen somit ein wirkungsmächtiges Anforderungsprofil für die Hauptdistanz dar. Dass die Abhängigkeiten so sind, ist Trainern schon sehr lange bekannt. Welcher Art ist diese Einwirkung?

2015 wurde hierzu eine wissenschaftliche Arbeit erstellt und danach dem DLV-Vorstand zugänglich gemacht. Die Dissertation stellte signifikante statistische Abhängigkeiten im Verhältnis von Unter- und Hauptdistanz bzw. Haupt- und Überdistanz über einen Zeitraum von dreißig Jahren mit der Qualität einer Konstanten fest. Mit den gefundenen Werten kann deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit für eine gesetzte Hauptdistanz die entsprechende Leistung für die Unter- und Überdistanz errechnet und so als ein Talentkriterium angesehen werden. Unter- und Überdistanz sind eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg auf der Hauptdistanz!

Bedauerlicherweise, so scheint es, wurden diese Ergebnisse der Dissertation, dass Leistungen des Anforderungsprofils für einen Erfolg vorhanden sein müssen, bis heute von den DLV-Verantwortlichen ignoriert. So jedenfalls kann das Ergebnis der Kaderberufung seit 2016 interpretiert werden. Träfe dies zu, hätten die Bundestrainer und die DLV-Verantwortlichen viel Zeit verschenkt, um mit diesen statistischen Grundlagen wissenschaftlich begründete Kaderberufungen vorzunehmen und möglicherweise zur internationalen Leistungsfähigkeit aufschließen zu können. Man darf nur hoffen, dass neue, sportwissenschaftliche Erkenntnisse für die  DLV-Läufer nicht so lange zur Umsetzung im DLV benötigen wie die bei Kugelstoßern. Im DLV-Jahrbuch der Leichtathletik 1972-1973 ist nämlich bereits ein Beitrag mit dem Titel „Drehtechnik beim Kugelstoß“ von Toni Nett erschienen!

Das eben beschriebene Verfahren zur Leistungsberechnung wird an dieser Stelle für den DLV-Mittelstreckenkader angewandt. Ausgangspunkt für die Berechnungen der Unter- bzw. Überdistanz als ein Anforderungsprofil bildet die erforderliche Leistung auf der Hauptstrecke, der „Belag“, bei internationalen Meisterschaften, um eine gute und berechtigte Chance zu besitzen, das Finale zu erreichen.

Von den 18 Läuferinnen und Läufern im Perspektivkader Mittelstrecke sind bereits elf seit 2015 in den DLV-Mittelstreckenkadern berufen gewesen. Einschließlich 2021 wurden diese elf Läuferinnen demnach bereits sieben Jahre lang vom DLV gefördert. Das Jahr 2022 ist laut DLV somit das achte – nach Meinung des DLV – förderungsfähige Jahr in Folge. Das eine oder andere Mal wechselten Athleten dabei zwischen dem 800 m-Kader und dem 1500 m-Kader.

Drei Medaillen bei U20- und U23-Europameisterschaften waren die bisherige Ausbeute dieser elf PK-Athleten in der langfristigen DLV-Förderung bis 2021. Die letzte Medaille wurde 2017 – vor fünf Jahren – gewonnen. Allein schon vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche internationale Perspektive, welches Potenzial die DLV-Verantwortlichen in diesen Läuferinnen und Läufern sehen. Schaffen die Läuferinnen und Läufer den Sprung ins Finale bei der WM in Oregon oder gar auf das Treppchen, wie es die Definition des Perspektivkaders fordert? Sind diese Läuferinnen und Läufer vom (Trainings-)Alter her gesehen überhaupt noch 2024 oder 2028 bei den Olympischen Spielen konkurrenzfähig?

Um nicht missverstanden zu werden: Die Läuferinnen und Läufer haben in den vergangenen – nicht nur – sieben Jahren eifrig und intensiv trainiert. Dabei mussten sie auf vieles in ihrem Privatleben verzichten. Sie haben die Nationalmannschaft des DLV mitgetragen und sich für Deutschland eingesetzt. Dafür verdienen sie großen Respekt! Auch eine Förderung durch den DLV. Fraglich ist nur, ob dies der Perspektivkader sein muss.

Ob die immer wieder erneute Berufung in den DLV-Kader durch den Vorsitzenden der Kommission Leistungssport, der Cheftrainerin sowie den zuständigen Bundestrainern ebenfalls Respekt verdient, ist allerdings eine ganz andere Frage. Sie könnte u.a. mit Hilfe der von den jeweiligen Bundestrainern erstellten Prognose sowie den der Prognose zugrundeliegenden Auswahlkriterien geklärt werden. Mehr Transparenz zu den Entscheidungen der DLV-Verantwortlichen in der Öffentlichkeit wäre angebracht. So könnten auch die Vereinstrainer vom Wissen, was ein Talent mit einer mittel- und langfristigen Perspektive besitzen muss, der Bundestrainer profitieren.

Vier weitere Athleten scheinen nicht dem Anforderungsprofil (siehe Tabelle 1) zu entsprechen. Weder auf der unteren noch auf der oberen Nachbarstrecke werden die notwendigen Leistungen vorgewiesen. Hier muss erfragt werden, was deren Berufung in den Perspektivkader Mittelstrecke bewirkte. Bei zwei weiteren Athleten, welche zumindest auf einer Distanz dem in Tabelle 1 geforderten Leistungsprofil nahekommen, scheint hier kein Ansatz, den Anforderungen des Perspektivkaders zu erfüllen, erkennbar zu sein.

Zusätzlich gibt es noch einen Sonderfall: Bei einem Athleten findet offensichtlich ein Experiment statt. Es soll ein Wechsel von der 400 m-Distanz auf die 800 m-Strecke stattfinden. Dieses Experiment ist grundsätzlich ausdrücklich zu begrüßen. Ob es unter Betrachtung des Alters des Athleten allerdings im konkreten Fall noch sinnvoll erscheint, ist eine andere Frage. Auch lässt seine Leistungsentwicklung über 400 m in den letzten Jahren ebenfalls nicht unbedingt auf einen Erfolg der Maßnahme, ein Vordringen in den Endlauf 2024 in Paris über 800 m, schließen.

Beim Finale muss zwischen der europäischen und der Weltebene unterschieden werden. Als ein geeigneter Ansatzpunkt zur Definition einer geforderten Laufleistung über 800 m oder 1500 m kann gemäß den DLV-Kader-Richtlinien der Platz Zehn in der europäischen bzw. Weltbestenliste angesehen werden. Die dort erreichte Zeit böte eine realistische Chance zur Teilnahme am Finale und dem Erreichen des Platzes Acht. Auf dieser Basis können nun wahrscheinliche, notwendige Unter- und Überdistanzleistungen für die gesetzte Leistung auf der Hauptdistanz berechnet werden.

Tabelle 1: Leistungen auf der Hauptstrecke und deren Anforderungsprofil für die Nebenstrecken zum Erreichen des Platzes Acht bei Europa- und Weltmeisterschaften

Wenn man jetzt wieder das Sandwich als Beispiel wählt, bedeutet dies für die Hauptstrecke, dass mindestens die Leistung auf der Unterdistanz oder auf der Überdistanz zu deren Unterstützung erbracht werden müsste. Nur so besäße der Athlet eine Chance, die Zeit auf der Hauptdistanz laufen zu können. Am besten wäre selbstverständlich, beide Leistungen könnten erbracht werden. Je weiter der Athlet von den Unter- bzw. Überdistanzleistungen entfernt ist, desto unwahrscheinlicher wird das Erreichen der Leistung auf der Hauptdistanz und somit ein Erfolg bei Europa- oder Weltmeisterschaften oder gar Olympischen Spielen.

Nun mag eingewendet werden, die in Tabelle 1 geforderte 400 m-Leistung und die 1500 m-Leistung für europäische- oder Weltklasse-800 m-Läuferinnen und Läufer seien doch viel zu hoch angesetzt. Die 400 m-Leistung wurde in den vergangenen Jahren ja noch nicht einmal von den deutschen 400 m-Läufern konstant erreicht. Hierzu ein Blick auf die Tabelle 2.

Tabelle 2: Bestleistungen der Zubringerstrecken von ausgewählten, aktuellen und früheren 800 m-Läufern der Weltklasse

Die in Tabelle 2 aufgeführten Läuferinnen und Läufer schafften somit entweder die geforderte Unter- oder Überdistanzleistung für entsprechende Weltklasseleistungen. Es gibt sie demnach, die konkret statistische Abhängigkeit der Hauptdistanz von der Unter- bzw. Überdistanz. Hier scheint eine Tendenz zu einer immer besseren 400 m-Leistung zu bestehen. Wird diese Tendenz von den DLV-Verantwortlichen für die Kaderberufung nicht gesehen oder wird sie gar ignoriert? Auf jeden Fall darf man feststellen, dass die DLV-800 m-Bundeskader in den letzten Jahren diesen Leistungsansprüchen im Anforderungsprofil nicht oder nur kaum entsprochen haben!

Ähnlich ist es mit der Zubringerleistung über 1500m. Die erforderlichen Zubringerleistungen für eine Weltklasseleistung über 800 m seien utopisch hoch, könnte ebenfalls behauptet werden. Diese Vermutung trifft abermals nicht zu, wie Tabelle 2 belegt. In ihr wird eine Auswahl von ehemaligen und aktuellen 800 m-Weltklasseläufern in ihrem Anforderungsprofil bezüglich der Unter- und Überdistanzen vorgestellt.

Bei den 1500 m-Läuferinnen und -Läufern des Bundeskaders sieht die Leistungsperspektive ähnlich aus wie bei den 800 m-Läufern. Auch hier werden die Leistungsanforderungen für eine Platzierung unter den ersten Acht in der Unter- bzw. Überdistanz nicht oder nur kaum erreicht. Das die Leistungen der Unter- und Überdistanz allerdings machbare Vorsetzungen darstellen, zeigt die Tabelle 3.

Tabelle 3: Bestleistungen der Zubringerstrecken von ausgewählten, aktuellen und früheren 1500 m-Läufern der Weltklasse

Generell darf man für den DLV-Perspektivkader Mittelstrecke festhalten:

Allen Läufern fehlt es an der Breite bezüglich der gelaufenen Strecken. Eine zu enge Spezialisierung ist scheint im Training stattgefunden haben. Somit fehlt es auch an den Voraussetzungen, die Anforderungsprofile zu erfüllen. Grundsätzlich scheint das größte Defizit in den Leistungen der Unterdistanz zu liegen. Hierauf gilt es für die Zukunft bei der Berufung in den Perspektivkader Mittelstrecke, besonders aber für die NK1- und NK2-Mittelstreckenkader, zu achten.

Aus den oben Gründen wird man von den Mittelstrecklern bei der WM und EM 2022 nicht viel erwarten dürfen. Medaillenhoffnungen bei beiden internationalen Veranstaltungen sind wohl verfehlt, dürfen aber im Sinne der Athleten erwünscht werden. Über die 800 m-Distanz und die 1500 m-Strecke sieht die Prognose bei den Europameisterschaften etwas heller aus. Platzierungen unter den ersten Acht scheinen hier möglich zu sein.

Bedingt international leistungsfähig, lautet das Fazit für die Mittelstrecken auf der Grundlage der hier gemachten Ausführungen. Es entsteht der berechtigte und begründete Eindruck, der DLV verletze seine eigenen Kriterien (siehe DLV-Definition zur Zugehörigkeit zum Perspektivkader) bei der Berufung des Perspektivkaders Mittelstrecke.

Besonders im Punkt der Zubringerleistung auf der 400 m-Distanz sind erhebliche Defizite im 800 m-Bundeskader festzustellen. Dies mag auch in den Defiziten der Talentausauswahl für die Nachwuchskader und in deren Leistungsentwicklung begründet liegen. Aber auch in den Überdistanzleistungen besteht in der Aktivenklasse noch sehr viel Luft nach oben.

Der Vorstand der Kommission Leistungssport ist dringend aufgefordert, die Kriterien für die Aufnahme in die Nachwuchskader zu überprüfen und gegebenenfalls auf ein neues, wissenschaftliches Fundament zu stellen. Die fehlenden Erfolge der Mittelstreckler in der Aktivenklasse in den letzten Jahren lassen wohl keine andere Wahl.

Insgesamt scheint zusätzlich ein Strukturumbau in der DLV-Leistungsförderung angebracht zu sein.

Nur so kann in Zukunft gewährleistet werden, dass der Bereich der DLV-Mittelstrecken wieder internationalen Leistungsanschluss findet.

Beide Umstrukturierungen sollten der Leichtathletiköffentlichkeit zeitnah vorgestellt werden.

Dr. Wolfgang Blödorn

https://germanroadraces.de/?p=186857

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