Blog
30
09
2021

Läufer und das leere Stadion in Tokio 2020 - 2020 Tokyo Olympic Games Tokyo, Japan July 29-August 8, 2021 Photo: Jean-Pierre Durand@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

Von Hightech und Untiefen – Erdrückt vom hohen internationalen Niveau büßt das DLV-Team in Tokio weiteren Boden ein. Von Michael Gernandt

By GRR 0

Als das Coronavirus im Frühjahr vergangenen Jahres die Japaner zwang, die Olympischen Sommerspiele um ein Jahr zu verschieben, behielten sie das originäre Logo des Unternehmens auch im Jahr 2021 bei: „Tokio 2020“.

Ein irritierender Versuch, den durch den viralen Störenfried Covid-19 in Unordnung geratenen Weltenlauf kurzerhand anzuhalten? Der olympische Kernsport Leichtathletik allerdings hat sich nicht erwärmen können fürs Einfrieren des Kalenders. Im Gegenteil: Sie ist schnurstracks in die Zukunft vorgeprescht.

Zum Kronzeugen des Zeitenübersprungs berief sich der Weltverband World Athletics (WA) einfachheitshalber selbst. Auf die in der Tat futuristischen Weltrekorde in den beiden 400-m-Hürdenfinals verweisend, Sydney McLaughlins 51,46 und Karsten Warholms 45,95 Sekunden, fabulierte ein WA-Lohnschreiber, man werde „noch in Jahrzehnten von diesen Rennen als den Events reden, die alles verändert haben dessen, was wir glaubten über die Grenzen menschlichen Leistungsvermögens zu wissen“.

Der renommierte britische Experte und Statistiker Peter Matthews sieht die 45,95 „mindestens“ auf dem Niveau der Jahrhundertrekorde von Bolt (9,58 sek.), Beamon (Weit 8,90 m) und Rudisha (800 m 1:40,91 min.).

Die selbst verordnete Großartigkeit ihres Sports im olympischen Kanon zu belegen: kein Problem für World Athletics. 83 Länder schickten Finalisten, unter ihnen 43 Staaten mit Medaillen (das sind beinahe 50 Prozent der Medaillen-Länder aller Sportarten); die entlegensten Ecken des Planeten  leuchtet die Leichtathletik inzwischen aus, Burkina Faso, ein Nobody aus Westafrika, ehedem Obervolta, erklomm erstmals das Podest der Besten, Bronze-Dreispringer Fabrice Zango machte es möglich. Mehr Weltläufigkeit geht nicht, WA-Chef Sebastian Coe sprach von der „globalsten Ausgabe der Olympischen Spiele – aus der Sicht der Leichtathletik“, Globalisierung nach Art seines Sports.

McLaughlin, Warholm und Yulimar Rojas korrigierten die Weltrekordliste (wobei der Dreisprung der Venezolanerin auf längst erwartete 15,67 m nicht den utopischen Anstrich der Hürdenzeiten hat), einige Etagen tiefer wurde mit alten Top-Marken ebenfalls kurzer Prozess gemacht: zwölf Olympische Rekorde, 28 Höchstleistungen der Kontinente, darunter drei des europäischen (Femke Bol/400 m H 52,03, Marcell Jacobs/100 m 9,80, Jakob Ingebrigtsen/1500 m 3:28,32) sowie 150 der nationalen Verbände.  

Mustermesse der Innovationen

Die Rekordflut, respektive ihr Hintergrund, waren das Thema im Tokioter Olympiastadion. Konnte man sie voraussehen, in diesem Ausmaß, von der Qualität? Angesichts des von Corona angerichteten Chaos in der vorolympischen Trainings- und Wettkampfplanung? In einer Stadt mit extremer Hitze und Luftfeuchtigkeit? Ohne den phonetischen Energieschub für Athleten und Athletinnen von tausenden Zuschauern? Doch schon, neue Bestmarken waren trotz allem beim höchstnotierten Meeting seit fünf Jahren absehbar: in Disziplinen diesseits der Mittel- und Langstrecke. Deren Protagonisten beklagten das Tokioter Klima nicht, sie begrüßten es, weil es ihr muskulöses Beinwerk mit dem besten Vortrieb ausrüstete.

Und damit zum Kern der Schwemme. Stichwort High-Tech. Obwohl umständehalber mit dem Etikett steril versehen, waren die Spiele in Tokio aus leichtathletischer Sicht am Ende des Tages jedoch eine muntere Mustermesse der Innovationen, die größte seit Einführung der Kunststoffbahn und des Flop vor 53 Jahren. Die Weiterentwicklungen der 400-m-Piste, vorangetrieben durch die italienische Marke Mondo, und des Schuhwerks der US-Firma Nike entpuppten sich, jawohl, als Revolution. Die Bahnbeläge aus Alba (Piemont) werden seit Jahrzehnten produziert, aber erst das 2019 verlegte Exemplar für Tokio 2020, ein nur 14 Millimeter starker vulkanisierter Gummibelag auf einer Schicht luftgefüllter Segmente, ließ die Zehntel schmelzen. Mondo spricht von einem „ein- bis zweiprozentigen Vorteil“. Assistiert wird der Trend zur Tempoverschärfung von den Spikes aus Oregon und den Nachahmungen anderer Firmen mit durch Schaumgummi gelifteten Sohlen („Trampolin“) und Einlagen aus Carbon.

Schaden für die Glaubwürdigkeit

Dass diese Entwicklung nicht ausschließlich von Beifall begleitet wird, sollte begrüßt werden und der Weltverband sich fragen lassen, ob er es mit der Akzeptanz des Technikspuks nicht übertreibe. Immer weiter mit der Fremdbestimmung des sportiven Talents des Menschen? WA-Chef Seb Coe jedenfalls, einst auf der Honorarliste von Nike notiert, hob rasch den Daumen, als der Sportartikelriese aus den USA das flotte Schuhwerk seinen Stars anpasste. Sein Kalkül: Rekorde halten die Leichtathletik im Gespräch und aus Sicht des Marketings auf Augenhöhe mit der Konkurrenz. Immerhin versuchte ein Lohnschreiber des Weltverbands die Hightech-Fraktion einzubremsen. Auf der WA-Homepage formulierte er: „Der Hauptgrund (für die Rekorde) ist die aktuelle Generation der wahren Allzeit-Größen“. Auch einige Athleten weigern sich, den Trend blanko zu unterschreiben.

Norwegens Karsten Warholm, in Tokio wohl mit Carbon unterwegs zum Weltrekord, aber nicht mit Schaumstoff, gab zu bedenken: „Wenn du einen Trampolin reinnimmst, ist das Bullshit, es schadet der Glaubwürdigkeit unseres Sports“. Speerwurfcoach Boris Obergföll sprach nach dem Favoritensturz seines auf dem für ihn zu weichen Mondo-Material ausgerutschten Branchenführers Johannes Vetter von einem „Kindergartenbelag“. Frührentner Usain Bolt, einst Puma-Runner und besorgt um seine 2009 auf Alt-Mondo in Berlin erzielten Sprintweltrekorde, nannte die neue Spikes-Technologie „unheimlich, lachhaft und unfair“.

Unangenehm war World Athletics die High-Tech-Diskussion keinesfalls, verdrängte sie doch Spekulationen um ein Thema, das für gewöhnlich bei derlei Rekordfesten die Tonlage bestimmt: Doping. Vorerst sind die Spiele in Tokio so clean wie weiland die in London 2012, die Seb Coe voreilig „die saubersten aller Zeiten“ genannt hatte. Böses Erwachen stellte sich dort erst ein, als die Nachtests analysiert waren: 17 Medaillen wechselten den Besitzer. Ein Deja-vu ist nicht auszuschließen.

Andere Auffälligkeiten im Sammelsurium der Ereignisse von Tokio.

+ Der Auftritt der US-Amerikaner. Obwohl auch diesmal gewohnt hochthronend über der Konkurrenz, jedoch erneut nicht in der Form der Trials, kredenzte das Team eine seltsame Melange einerseits aus Schwächeanfällen in traditionsreichen Erfolgsdisziplinen wie den Sprints, was deutliche Lücken im Medaillen- und Finalistenranking (26 Podestplätze, in Rio 32 — 7 mal Gold, in Rio 13 mal – 263 Punkte für Plätze eins bis acht, Rio 310) zur Folge hatte; andererseits eine der Mixtur beigemischt stattliche Prise extrem talentierter und bereits in die Finals vorgerückter Athleten und Athletinnen der U24-Kategorie. Ein Vorgeschmack auf die WM 2022, der ersten in den USA. Man ahnt, dass es in Eugene wieder Richtung Rio-Bilanz gehen kann.

+ Der Überraschungsgast im Medaillenspiel heißt, Achtung, Italien (im Placing Table verblüfften die Niederlande als Sechste). Mit fünf Olympiasiegen stürmten die Italiener auf Platz zwei. Ausrufezeichen. Zwei im Sprint. Zwei Ausrufezeichen. Zwei beim 20 km-Gehen, eine geteilte für Hochspringer Gianmarco Tamberi. Man sollte den Italienern die Daumen drücken, dass die „Fünf“ von Dauer ist …

Das Beispiel Italien stützt im Übrigen erneut die Zweifel am Medaillenspiegel, der sich an der Goldwährung ausrichtet statt an der Zahl aller Medaillen. Nur deshalb rangierte Italien (5) vor Kenia (10), Polen und Jamaika (je 9).

+ Die Angelegenheit der Athletinnen mit zu hohem, körpereigenem Testosteronspiegel. Zwei 400-m-Läuferinnen aus Namibia schloss die neue WA-Regel („Semenya-Paragraf“) vom Rennen über die Stadionrunde aus, bot Starts jenseits der 1500 m an oder diesseits der 400 m. Die Afrikanerinnen wählten die 200 m, Christine Mboma (18) gewann Silber in 21,81 (U20-WR, Afrikarekord), Beatrice Masilingi (18) wurde Sechste in 22,28 (PB). Die Folge: Erneute Diskussionen über die „Testo-Frauen“. Behauptung von WA-Chef Seb Coe: „Dieses 200 m-Finale zeigt, dass die Testosteron-Regel funktioniert“. Wirklich??

+ Der Trend zum Jungspund.  An der Spitze wird die Leichtathletik immer jünger. Aus dem erwähnten knappen Dutzend US-Junioren und Juniorinnen sticht die fantastisch elegant und souverän laufende 800-m-Siegerin Aything Mu (19) heraus, gefolgt von 200-m-Bubi Erriyon Knighton (17) als Endlauf-Viertem und 1500-m-Jüngling Cole Hocker (20) als Sechstem. Femke Bol (21) aus den Niederlanden gewann 400-m-Hürden-Bronze und Norwegens Jakob Ingebrigtsen (20) 1500 m-Gold. Deutschlands jüngste Einzelstarterin war Samantha Borutta (21). Sie überstand die Qualifikation nicht.

Eine Vier fürs DLV-Team

Mit der Hammerwerferin aus Leverkusen ist dieser Text nun beim DLV-Team angekommen und der Frage, wie seine Performance in Tokio zu bewerten ist. Ginge man wie die Marktforscher vor, die gern Noten aus der Skala von Null (ganz schlecht) bis Zehn (hervorragend) vergeben, wäre unter Berücksichtigung aller Probleme  – Pandemie, Klima, Verletzungsausfälle – mehr als eine „Vier“ nicht drin; nicht angesichts der sich seit 2016 verstärkenden Abwärtstendenz des DLV in allen wesentlichen Parametern: in den Tableaus der Medaillen und Finalisten (Plätze 1 – 8) Absturz von Platz 6 (Rio) auf 13 und elf; in den Punkten abgehängt von den europäischen Wettbewerbern Großbritannien, Polen, Niederlande (!), Norwegen, eingeholt von Italien; von 56 Einzelstartern (ohne Staffeln und Straßenevents) 26 Gestrauchelte in Runde eins und 21 in Runde zwei; nur acht persönliche oder Saison-Bestleistung beim Jahreshöhepunkt.

Die drei Medaillen von Tokio – für die nervenstarke Weitspringerin Malaika Mihambo (Gold) und die als Außenseiter angetretenen Silbergewinner Kristin Pudenz (Diskus) und Jonathan Hilbert (50 km Gehen) – sind so gesehen nur für ihre Besitzer von Gewicht, den mäßigen Gesamteindruck korrigieren sie gut wie nicht. Dass der DLV sich weiter von der Weltspitze entfernt hat, belegt auch dies: Er schickte 26 unter 24-Jährige zum Lernen nach Tokio (siehe Borutta), das US-Team dagegen seinen Nachwuchs in die Olympiafinals.

Es läuft offenbar etwas schief mit dem System des DLV, einem System, das den Verdacht nährt:

 – verkopft zu sein und übermäßig der Wissenschaft zugetan

 – wegen zu viel Administration abgelenkt zu sein von der Belastungssteuerung der Aktiven, weshalb DOSB-Sportchef Schimmelpfennig die „Entbürokratisierung des Leistungssports“ fordert

 – im eigenen Saft zu schmoren, wofür die Unkenntnis von der Konsistenz des Mondo-Belags in Tokio spricht (Fall Vetter) 

– Potential zu vergeuden, Cheftrainerin Anett Stein sprach von der Umkehr der Fußballerweisheit: Wir haben keine Chancen, nutzen wir sie.

Musste unter diesen Umständen zwangsläufig misslingen, die Athleten und Athletinnen auf die richtige „Road to Tokio“ einzuweisen?

Ging deshalb dieser Balanceakt schief: einerseits Hilfestellung leisten, um den Aktiven ihren Olympiatraum („Dabei sein ist alles“) zu erfüllen, soll heißen der Pandemie wegen großzügig sein bei der Nominierung, und andererseits gleichzeitig die Mechanismen der fordernden Leistungsgesellschaft befolgen? Weil die Wettkampfbrache im Pandemiejahr 2020 die Jagd auf Olympianormen unterbrochen hatte, durfte mehr als ein halbes Dutzend Normerfüller aus 2019 ins Team rutschen. Formschwäche zwei Sommer später, geringes internationales Niveau, mussten DOSB und DLV (aus Furcht vor Klageandrohungen?) geflissentlich übersehen. So fiel das Team mit 88 Personen, Hand aufs Herz, viel zu groß aus. Man hätte im Nachhinein gern gewusst, mit welchem Team der DLV nach Tokio gereist wäre, hätte er allein verantwortlich und nach dem alten Kriterium „berechtigte Endkampfchance“ nominieren können.

Auf den Einfluss von Untiefen im Deutschen Leichtathletik-Verband hatte schon vor den Spielen Ex-Bundestrainerin Gertrud Schäfer (76), Coach der zweimaligen Siebenkampf-Weltmeisterin Sabine Braun (1991, 97), in einem Interview mit dem TV-Kanal Sport1 aufmerksam gemacht und damit Alarm ausgelöst, auf den der Verband öffentlich nicht reagierte.

Einem Großteil der beim DLV angestellten und angepassten Trainer fehle die Kompetenz, Athleten und Athletinnen zielführend auf Wettkämpfe vorzubereiten. Zudem liege in der Sportmedizin vieles im Argen. Also nicht nur Bruchstellen im System, auch Schwachstellen beim Personal?

Da fiel auf, was die gescheiterte Medaillenkandidatin im Speerwurf, Christin Hussong, über ihren Vater-Trainer, ein Selfmademan der Branche, in Tokio den Medien erzählt hat: „Er hat ein bisschen anders draufgeschaut, weil ich ja doch die Tochter bin und nicht ganz so viel verlangt“. Soso!

Dass beim Zurück- und Nachvorneblicken im Herbst hinter geschlossenen Türen die Fetzen fliegen ob der, vorsichtig formuliert, durchwachsenen Olympiabilanz, gar das System neu justiert wird, darf kaum erwartet werden. Auch wenn es nötig wäre.

Wie soll ein aktualisiertes System reifen, wenn ihm der Rhythmus zur Ausformung genommen wird, weil ein Schwerpunkt auf den nächsten folgt: 2022 WM in den USA, vier Wochen später EM im eigenen Haus (München), 2023 wieder WM (Budapest), 2024 Olympia (Paris) und 2025 WM Nr. vier in drei Jahren.

Ein wenig Hoffnung macht aber doch eine Bemerkung der Cheftrainerin Anett Stein auf der letzten Pressekonferenz in Tokio. Die Tokio-Auswertung, heißt es im Pressedienst des DLV, müsse vor dem Hintergrund „… eines dynamischen Veränderungsprozesses des Sports und der Verschiebung von Kompetenzen in den einzelnen Ländern“ erfolgen.

Verschiebung womöglich an Haupt und Gliedern?

Auch in Deutschland?

Michael Gernandt in  „Leichtathletik Informationen“ des Vereins „Freunde der Leichtathletik“ 

author: GRR