Wilson Kipketer - 2008 FootLocker South Regional XC Charlotte, NC November 29, 2008 Photo: Victah Sailer@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
800 Meter: Von Irrwitzigen umgeben – ist das nur noch Geschichte? KLAUS BLUME fragt Williiiii Wülbeck
Roger Moens ist jetzt 91 Jahre alt. Doch sein Herz hängt immer noch an den belgischen Leichtathleten. Als diese sich vor gut einer Woche zu den Spielen nach Tokio aufmachten, meldete sich der einstige 800-Meter-Weltrekordler in der Öffentlichkeit.
In seiner flämischen Gemeinde Ternal spendete er seinen Corona-Impfstoff den jungen belgischen Olympioniken. „Denn ich brauche ihn ja nicht mehr “, erklärte der pensionierte Kriminalkommissar im flämischen Fernsehen. Niemand müsse sich aber nun deshalb um ihn sorgen, denn er fühle sich noch immer völlig fit; lebe weiterhin daheim und erledige alles im Haus, was zu erledigen sei.
Er sei ja schließlich noch keine hundert Jahre alt. Eben.
Roger Moens, erinnern Sie sich noch? Es geschah am 3. August 1955 im legendären Osloer Bislett-Stadion: Damals stürmte Moens nach 1:45,7 Minuten ins Ziel des 800-Meter-Laufs. Weltrekord! Ob sich jemand daran erinnert, wenn es heute in Tokio auf dieser historischen olympischen Distanz um Gold, Silber und Bronze geht? Wohl kaum, und schon gar nicht daran, dass Moens seinerzeit die damals bereits 16 Jahre alte Bestmarke des Dresdners Rudolf Harbig geknackt hat. Jede 1:46,6 Minuten, die dieser am 15. Juli 1939 in Mailand erreicht hatte.
Rudolf Harbig: Wer auch immer in diesem Lande für seine ganz besonderen Verdienste um die Leichtathletik ausgezeichnet wird, erhält einen Preis im Namen Rudolf Harbigs. Eines 800-Meter-Spezialisten von ganz besonderer Bedeutung. Das ist usus. Wobei es nicht wenige 800-Meter-Läufer von besonderer Bedeutung in der Geschichte des Sports gegeben hat.
Willi Wülbeck, zum Beispiel, der schnelle Mann aus dem Ruhrgebiet, raste am 9. August 1983 zur ersten 800-Meter-Weltmeisterschaft der Sportgeschichte. Wir kannten uns damals schon einige Jahre; hatten oft stundenlang über die zwei Stadionrunden im Renntempo gestritten; kontrovers, versteht sich – in Helsinki musste ich Willis Sturmlauf im Hörfunk übertragen. Live.
Ich weiß nicht, was ich damals alles gesagt habe, ich erinnere mich aber, wie mich dreihundert Meter vor dem Zielstrich die pure Angst packte: Würde der Kumpel da unten das wirklich schaffen, bei diesem Affentempo? Er schaffte es, und von meiner Angst, sagte der Kollege daheim, hätten die Hörer nichts gespürt.
Willi ist damals, am 9. August 1983 im Olympia-Stadion zu Helsinki, natürlich viel schneller gelaufen, als er es eigentlich konnte. Dazu gehört viel Mut! Dass seine fantastischen 1:43,65 Minuten noch immer als deutscher Rekord Bestand haben, macht ihn allerdings nicht fröhlich, sondern wütend. Deshalb wetterte er auch gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa): „Ich vermisse bei vielen jungen und talentierten Läufern den Biss und das Selbstbewusstsein.“
Willi Wülbeck (r.) wird 1983 in Helsinki Weltmeister – Cover Copress
Aber den braucht es, um im 800-Meter-Lauf im wahrsten Sinne des Wortes voran zu kommen. Ich habe mal eine halbe Nacht lang mit dem Brasilianer Joaquim Cruz (1:41,77 Minuten!) und dessen nachdenklichen Coach Luiz de Oliveira zusammengesessen. Luiz prägte damals den Satz: „Qualität ist nicht nur Intensität“. Weiß Gott! Dann rechnete er vor: „Am besten geht es so: die ersten 400 Meter in 49, die letzten in 51 Sekunden.“ Und sein Schützling Joaquim Cruz drückte mir einen Zettel in die Hand, den ich noch heute wie meinen Augapfel hüte. Denn darauf hat er acht (!) Möglichkeiten ausgerechnet, wie man zum Weltrekord kommen könnte – wenn man‘s denn kann . . .
Einer konnte es ganz besonders: Wilson Kipketer, geboren in Kenia; als Austauschstudent für Elektrotechnik in Dänemark zum dänischen Staatsbürger geworden; heute – das gibt er unumwunden zu – der Steuern wegen in Monaco lebend. Als Kipketer am 13. August 1997 im Zürcher Letzigrund zum Weltrekord von 1;41,24 Minuten gestürmt war, beruhigte er mich: „So schnell laufe ich in diesem Sommer ganz bestimmt nicht wieder.“ Also lehnte ich mich eine Woche später, beim großen ASV-Sportfest in Köln, so lange beruhigt zurück, bis dieser Irre in die letzte Runde hinein preschte.
Der wird doch wohl nicht . . . von wegen.
Ich rief beim Zieleinlauf in Zürich an: „Baut die Seite um, Kipketer ist schon wieder Weltrekord gelaufen – 1:41,11 Minuten.“
Womit er noch immer auf Rang zwei der ewigen Weltbestenliste steht. Und dort wird er wohl auch noch eine ganze Zeit bleiben
Klaus Blume
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