Willi Wülbeck bei seinem Weltmeistersieg 1983 in Helsinki - Foto: Copress Verlag
800 Meter: Einst beherrschten die Deutschen die internationale Szene – Als Günter Grass vom „Wunderläufer“ schrieb – Von KLAUS BLUME
Ich vermisse bei vielen jungen und talentierten Läufern die Courage, den Biss und das Selbstbewusstsein.“ Das sagt jemand, der es wirklich wissen muss: Willi Wülbeck, 1983 in Helsinki Weltmeister über 800 Meter in der noch immer bestehenden deutschen Rekordzeit von 1:43,65 Minuten.
Wenn am Sonntag, punkt 16 Uhr, bei den Deutschen Meisterschaften im Berliner Olympia-Stadion der Start zum 800-Meter-Lauf erfolgt, können Sie sich getrost einige Minuten die Füße vertreten – denn warum sollten Sie zuschauen?
Die derzeit drei schnellsten deutschen 800-Meter-Spezialisten belegen in der aktuellen europäischen Rangliste ohnehin nur die Plätze 16 (Christoph Kessler), 30 (Marc Reuther) und 63 (Lorenz Herrmann)! Die Spitze bilden drei Franzosen und drei Engländer – allen voran der 20jährige Max Burgin (1:42,52 Minuten), der von seinem Vater Ian trainiert wird.
Berlin ist zwar immer eine Reise wert – doch ganz bestimmt nicht wegen der deutschen Meisterschaft über 800 Meter. Ausgerechnet in einem Lande, in dem von Norden bis Süden, von Osten bis Westen, insgesamt 41 (!) Straßen und sechs Hallen die Namen einst erfolgreicher deutscher 800-Meter-Läufer tragen. Allen voran Rudolf Harbig aus Dresden, 1938 Europameister in Paris. Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass verstieg sich in seinem autobiographischen Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ bei seiner Harbig-Verehrung sogar hinauf zum „Wunderläufer“.
Die „Harbigstraße“ in Berlin-Charlottenburg – Foto: Horst Milde
Aber die 800-Meter-Spezialisten stellten schon immer etwas Besonderes in der hiesigen Leichtathletik dar; ja, sogar im gesamten deutschen Sport. Auch den Namen des Münchners Hanns Braun tragen deshalb heute noch viele Straßen und einige bekannte deutsche Sportstätten. Braun gewann bei den Olympischen Spielen 1908 in London über 800 Meter die Bronzemedaille. Später machte er sich vor allem nicht nur in der Münchner Gesellschaft auch als angesehener Bildhauer einen Namen.
Aber warum sind 800-Meter-Läufe so faszinierend? „Eine internationale Konkurrenzfähigkeit verlangt Athleten, die sowohl die Rekord-, als auch die Sieg-Taktik beherrschen und über hohe Schnelligkeitsausdauerfähigkeiten verfügen. Die Besten haben kaum Tempoverluste auf der zweiten Hälfte, wehren zwischen 600 und 700 Meter die meist erfolgenden Angriffe ab und stürmen auf breiter Front sowohl mit langen Schritten, als auch durch Schrittfrequenzsteigerungen die Zielgerade herunter.“
Zu dieser Erkenntnis kam der Sportwissenschaftler Lothar Pöhlitz, einst Cheftrainer in der DDR und in der Bundesrepublik. Verheiratet ist Pöhlitz übrigens mit einer ehemaligen 800-Meter-Läuferin, mit Waltraud Kaufmann, 1962 EM-Zweite in Belgrad.
„Über 800 Meter ist die Psyche entscheidend, weil jeder im Finale irgendwann „sauer“ und platt sein wird und die psychische Stärke entscheidet, wer noch im „roten Bereich“ schnell laufen kann. Das ist die wichtigste Voraussetzung, die einen Sieger ausmacht.“ Das wiederum erfuhr Nils Schumann, im Jahr 2000 Olympiasieger über 800 Meter in Sydney.
Dennoch: Die Liste der international erfolgreichen deutschen 800-Meter-Läufer ist lang – und überaus eindrucksvoll. Der Erfurter Hockey-Spieler Manfred Matuschewski, als „Millimeter-Läufer“ hoch verehrt, weil er seine Rennen oft erst eine handbreit vor der Ziellinie entschied, gewann 1962 und 1966 die Europameisterschaft. Der Potsdamer Olaf Beyer wiederum besiegte bei den Europameisterschaften 1978 in Prag die hoch favorisierten Briten Sebastian Coe und Steve Ovett.
Apropos, Sebastian Coe: 1982 kam der heutige Chef des Leichtathletik-Weltverbandes als Weltrekordler (damals 1:41,73 Minuten) und als haushoher Favorit zu den europäischen Titelkämpfen nach Athen – und verlor erneut gegen einen Deutschen, gegen den Ingolstädter Hans-Peter Ferner.
Historisches? Haben die 800-Meter-Läufer auch zu bieten.
Bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki gewann der Frankfurter Heinz Ulzheimer nach dem zweiten Weltkrieg mit Platz drei über 800 Meter die erste Medaille für Deutschland. Damals gab es vor der Frankfurter Paulskirche dann wohl auch den ersten großen öffentlichen Empfang für einen Sportler.
Olympia in Sydney/AUS; 28.09.2000; 800m Herren: Olympiasieger Nils Schumann (GER) – Foto: Camera 4
Den einzigen deutschen Olympiasieg über 800 Meter schaffte indes im Jahre 2000 Nils Schumann. Aber das ist nun auch schon 22 Jahre her. Doch warum klappt heute nichts mehr bei unseren 800-Meter-Läufern? „Die Wettkampfhärte ist einfach nicht da, und so etwas wird ganz schnell zu einem mentalen Problem“, mutmaßt Willi Wülbeck. Ein Mann, der es nun wirklich wissen muss.
Klaus Blume
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