Blog
22
12
2010

Über 800 m ist ein solcher „Doppelstart“ möglich, vorausgesetzt das Training in den Monaten März – Mai verläuft planmäßig, ohne große „Stolperer“ und die vorbereitenden Wettkämpfe sind gut ausgewählt und organisiert.

800 m Frauen Weltrekord: In 50 Jahren von 2:04,3 auf 1:53,28 – Überdurchschnittliches Talent – grenzwertiges Training oder Schildkrötenblut – Das Semenya–Problem ist noch nicht vom Tisch – Von Lothar Pöhlitz

By GRR 0

Vielen jungen 800 m Läuferinnen wird es wie ein Scherz vorkommen, wenn sie heute lesen dass „einst“, lange 32 Jahre, Leichtathletik – Funktionäre, die Weltpresse und die gesellschaftliche Stellung der Frau ihnen die Läufe über 2 Runden und mehr auf der Aschenbahn verbieten konnten.

Vor allem aus der UdSSR, osteuropäischen Ländern und England kamen in den fünfziger Jahren energische Impulse für die Frauenmittelstrecken nach der Weltkriegspause. Nachdem Nina Otkalenko-Pletnjowa 1952 mit 2:08,5 in eine damals neue Leistungsdimension vorgestoßen war, war auch ein steiler Aufstieg der Frauenleichtathletik mit spürbaren Fortschritten verbunden. 1954 gab es 800 m auch bei Europameisterschaften, 1960 wurde die Russin Ludmila Schewzowa erste Olympiasiegerin mit Weltrekord in 2:04,3 Minuten. Solange galt der Olympische Rekord aus dem Jahre 1928. Den hatte die Deutsche Lina Radke mit 2:16,8 sozusagen im letzten 800er vor der großen Pause aufgestellt.

Mit einem Sprung auf 2:01,2 eröffnete die Australierin Dixie Willis 1962 die Jagd auf Zeiten unter 2 Minuten. Trotz großer Leistungsverdichtung verfehlte 1968 aber auch die Jugoslawin Vera Niculic mit 2:00,5 die neue Schallmauer knapp.

Am 11.7.1971 schließlich gelang 43 Jahre nach Lina Radke wieder einer Deutschen ein neuer Weltrekord: Hildegard Falck lief bei den Deutschen Meisterschaften in Stuttgart  1:58,5! 1972 wurde sie Olympiasiegerin. In einem sensationellen Finale, noch nie waren so viele Läuferinnen in einem Rennen unter 2:00 Minuten geblieben, der Achten fehlten an der Minuten – Grenze nur 2 Zehntel.

 

 

Frauen Weltrekordentwicklung seit 1928

 

 

Zeit (min)

Name

Land

Datum

Ort

2:16,8

Lina Radke

GER

02.08.1928

Amsterdam

2:13,8

Anna Larsson

SWE

30.08.1945

Stockholm

2:13,0

Jewdokija Wassiljewa

URS

17.07.1950

Moskau

2:12,2

Valentina Pomogajewa

URS

26.07.1951

Moskau

2:12,0

Nina Pletnjowa

URS

26.08.1951

Minsk

2:08,5

Nina Pletnjowa

URS

15.06.1952

Kiew

2:07,3

Nina Otkalenko (Pletnjowa)

URS

27.08.1953

Moskau

2:05,0

Nina Otkalenko

URS

24.09.1955

Zagreb

2:04,3

Ludmila Schewzowa

URS

07.09.1960

Rom

2:01,2

Dixie Willis

AUS

03.03.1962

Perth

2:01,1

Ann Elizabeth Packer

GBR

20.10.1964

Tokio

2:01,0

Judy Pollock

AUS

28.07.1967

Helsinki

2:00,5

Vera Nikolic

YUG

20.07.1968

London

1:58,5

Hildegard Falck

FRG

11.07.1971

Stuttgart

1:57,5

Svetla Zlateva

BUL

24.08.1973

Athen

1:56,0

Walentina Gerassimowa

URS

12.06.1976

Kiew

1:54,94

Tatjana Kasankina

URS

26.07.1976

Montreal

1:53,43

Nadeschda Olisarenko

URS

27.07.1980

Moskau

1:53,28

Jarmila Kratochvílová

TCH

26.07.1983

München

 

Ausblick – 2012 sind Europameisterschaften und Olympische Spiele

Auch wenn die Ergebnisse 2008 – 2010 und die aktuelle Weltbestenliste verdeutlichen, wie schwer Platzierungen in den Finals bei den inzwischen jährlichen internationalen Wettkampfhöhepunkten zu erringen sind, macht die Ausgangsposition unserer derzeit 3 Besten Jana Hartmann, Fabienne Kohlmann und Claudia Hoffmann für 2012 Hoffnung. Wer bis dahin 1:59,0 möglichst stabil schafft, und das kann man ihnen nach weiteren 2 Jahren Hochleistungstraining zutrauen, hat berechtigte Aussichten zuerst bei den Europameister-schaften in Helsinki/Finnland (27.6. – 1.7.2012) und anschließend vom 27.7. – 12.8.2012 bei den Olympischen Spielen in London mehr als das Halbfinale zu erreichen.

Über 800 m ist ein solcher „Doppelstart“ möglich, vorausgesetzt das Training in den Monaten März – Mai verläuft planmäßig, ohne große „Stolperer“ und die vorbereitenden Wettkämpfe sind gut ausgewählt und organisiert.

Um, trotz gegenwärtig deutlicher Leistungsverdichtung um 1:57:00 – 1:58:00 in die Nähe der 1:53,28 der Jarmila Kratochvilova aus dem Jahre 1983 zu kommen – was nicht unmöglich erscheint – bedarf es einer Läuferin mit einer optimalen Körperkonstitution, einer 400 m-Leistungsfähigkeit in der Nähe von 50 Sekunden, einer hohen V02max, spezieller Kraft, außergewöhnlicher mentaler Stärke und einer hohen sportlichen Form an diesem Tag X  – der Sternstunde eines außergewöhnlichen Talents.

 

Die Entscheidung betreffs Caster Semenya auf den 1.5.2011 vertagt

 

*Eine kleine Fußnote ist die Wiederaufnahme der Caster Semenya (RSA) in die internationale 800 m Familie der Frauen bei vielfältigen Widersprüchen schon wert. Muß man sich nicht wundern wenn sie nach einer einjährigen „Zunächstsuspendierung“ wegen Problemen bei der Geschlechtszuordnung und einem unbefriedigenden Training, wie ihr Trainer verkündete, beim ISTAF schon wieder beeindruckend leicht 1:59.90 lief.

Was passiert wenn sie vielleicht schon in der kommenden Saison oder 2012 neuen Weltrekord läuft?

Warum werden die medizinischen Untersuchungen unter Verschluß gehalten? Vielleicht hat sie nur erhöhte Testosteronwerte – ein genetischer Defekt der Natur, wofür sie nichts kann – wäre das aber nicht gegenüber den anderen Frauen eine große Benachteiligung, ein nicht mehr fairer Wettbewerb. Lange Jahre brauchten die Frauen für die Teilnahme beispielsweise an Olympischen Spielen einen „Fraue-Paß“. Die Älteren können sich sicher erinnern, dass der zur Gerechtigkeit nicht unerheblich beitrug. Obwohl die Frauen gut damit lebten wurde er von Funktionären wegen Diskriminierung wieder aus den Regeln entfernt.  

Heute gibt es festgelegte Grenzwerte. Gelten sie für Semenya nicht? Wird von anderen Frauen mit Testosteron nachgeholfen und diese festgelegten Grenzwerte bei Dopingkontrollen nachweislich überschritten, gibt es lange Sperren.

 

 

IOC  – Geschlechtstests von 1968 wurden erst vor 2000 wieder abgeschafft

 

 

Ohne Offenlegung der Untersuchungsergebnisse bleiben Zweifel. „Das Internationale Olympische Komitee hatte 1968 eine umstrittene „Gender Verification“ (Geschlechtstest) als verbindlich eingeführt, vor den Sommerspielen 2000 in Sydney jedoch wieder abgeschafft. Sie sieht sie mittlerweile nur noch in strittigen Fällen vor. Auch die IAAF hat ihre Tests abgeschafft.                                                                                                       

Bei den Asienspielen 2006 in Doha musste die indische Leichtathletin Santhi Soundarajan ihre 800-m-Silbermedaille wieder abgeben, nachdem bei einem Geschlechtstest herausgekommen war, dass sie von der Chromosomen-Konstellation her männlich ist.

Normalerweise weisen Frauen zwei X-Chromosomen (XX) in ihren Zellen auf, Männer ein X- und ein Y-Chromosom (XY). Manche mit einem Y-Chromosom geborenen Menschen entwickeln alle körperlich charakteristischen Merkmale einer Frau – ausgenommen der inneren Sexual-Organe. Sie leiden unter dem Androgen Insuffizienz Syndrom (AIS)“ (Quelle: Welt-Online vom 19.8.2010)

Der Leichtathletik-Weltverband IAAF erteilte inzwischen der/dem 19-Jährigen Semenya die uneingeschränkte internationale Wettkampferlaubnis, nachdem die Untersuchungen zum angeordneten Geschlechtstest abgeschlossen seien. Die IAAF-Führung folgte da einer Empfehlung der Medizinischen Kommission des Weltverbandes, die medizinischen Details seien aber vertraulich und würden nicht weiter kommentiert.

In einer aktuellen Meldung wird nun aber erfreulicherweise deutlich, dass IAAF und IOC der derzeitige Stand auch nicht hat ruhen lassen. Eine neue Regelung, die sich mit „Störungen der sexuellen Entwicklung“ befasst, soll nun bis zum 1. Mai 2011 erarbeitet werden. Meine Mutter hat immer gesagt „Ordnung ist das halbe Leben“, das sollte auch für Funktionäre gelten die Sportler in der Weltspitze begleiten.

 

Nicht nur bei Weltrekorden laufen Zweifel immer mit

 

Die aktuellen Topathletinnen haben es nicht leicht. Nachdem die internationalen Gremien beschlossen haben die Weltrekorde aus der „Ana Bolika–Zeit“ nicht aus den Statistiken zu streichen und ganzjährige Trainingskontrollen weltweit offensichtlich nicht zu organisieren oder zu finanzieren sind, bleiben für die Konkurrenten oder auch die Medien immer nach neuen Weltrekorden, beeindruckenden Siegen oder auch nach deftigen Niederlagen die Fragen ob überdurchschnittliches Talent, hochbegabt mit hartem Training, bei den Frauen eine bestimmte Chromosomenkonstellation oder gar Schildkrötenblut diese Leistung unterstützt haben!

Lothar Pöhlitz

 

author: GRR

Comment
0

Leave a reply