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23
06
2023

Offizielles Gedenken am 17. Juni 2023 am Mahnmal - Foto: Erdmute Nieke

70 Jahre Volksaufstand in der DDR – Laufen und Erinnern mit zwei Zeitzeugen – Gedanken zum Erinnerungslauf am 17. Juni 2023 durch Berlin-Mitte – von Dr. Erdmute Nieke

By GRR 0

Am Samstag Morgen trafen sich um neun Uhr zwölf Menschen am Strausberger Platz in Berlin (Ost) um sich auf die originale Strecke des Marsches der Bauarbeiter vom 16. Juni 1953 zu begeben. Dieser Weg wurde am 16. und 17. Juni 1953 gegangen, wobei sowjetische Panzer den Protestmarsch am 17. Juni 1953 auflösten.

In der Anmeldeliste zum Lauf fanden sich zwei Menschen, die Zeitzeugen sind! Spannend für uns Nachgeborene.

Gruppe laufend „Unter den Linden“  – Foto: Manfred Templin

Manfred erzählte seine Erinnerungen an den 17. Juni 1953 gleich vor dem Start. Für den damals zehnjährigen Schüler im Westberliner Stadtteil Heiligensee fiel an diesem Mittwoch an seiner Grundschule der Unterricht aus. Die Lehrer berichteten, dass viele Arbeiter aus Hennigsdorf zu Fuß nach Berlin liefen. Manfred ging mit anderen Jungen zum S-Bahnhof Heiligensee, wo die Arbeiter in ihrer markanten Arbeitskleidung mit Helm und Gesichtsschutz von Rot-Kreuz-Schwestern mit Schmalzstullen und Kaffee versorgt wurden. „Gib den Kindern auch mal eine Stulle!“ riefen die Arbeiter und die Kinder bekamen jeder eine Stulle. Es kamen große Möbelwagen der Firma Marotzke und diese fuhren die Arbeiter nach Tegel, wo sie ihren Marsch in die Innenstadt fortsetzten.

Zeitzeuge Manfred (rote Jacke) am Start mit der Gruppe – Foto: Manfred Templin

Verschiedene historische Quellen berichten, dass zwischen 6.000 und 13.000 Stahlwerker aus Hennigsdorf durch durch Tegel und Wedding – den Westteil der geteilten Stadt – zogen, um am die zentralen Demonstrationsorte im Ostteil zu gelangen.

Nachdem der Regierende Bürgermeister von Berlin (West), Jakob Kaiser, seine Rede im RIAS an die Aufständischen vom Abend des 16. Juni 1953 noch einmal für uns gesprochen hatte, starteten wir und liefen über die Karl-Marx-Allee zum Alexanderplatz.

Am Alexanderplatz gibt es zwei Erinnerungsorte zum 17. Juni 1953. Zum einen ist da das ehemalige Polizeipräsidium der Volkspolizei. Die Aufständischen versuchten das Gebäude zu stürmen. Der Berliner Polizeipräsident Waldemar Schmidt verließ daraufhin aus Angst vor den Demonstrierenden das Gebäude durch den Hinterausgang in Zivil.

Zum anderen war am Alex das große HO-Kaufhaus im Berolinahaus, dass von den Aufständischen am 17. Juni 1953 gestürmt und geplündert wurde. Dieses Ereignis verdeutlicht die wirtschaftliche Situation im Jahr 1953. Der Aufbau der Rüstungsindustrie und die Enteignung von mittelständischen Betrieben verbunden mit nicht erfüllbaren Normerhöhungen führten zu Gehaltskürzungen. Die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft hatte 18 Prozent unbebaute Landfläche zur Folge. Hunger und Lebensknappheit wurde durch Lebensmittelmarken bekämpft. Dazu eröffneten HO-Läden. HO stand für Handelsorganisation, die Angebote waren viel teurer als den übrigen Läden. Das entfachte den Zorn der Menschen.

 Rosen am „Platz des Volksaufstandes“  – Foto: Erdmute Nieke

Dann laufen wir weiter zum ehemaligen Zeughaus Unter den Linden. Hier war das erste Todesopfer des Aufstandes zu beklagen, ein junger Mann, wohl von einem sowjetischen Panzer überrollt. Bis heute ist nicht geklärt, wer es war. Wir betrachten ein Foto der Aufständischen, die kurzzeitig vor dem Zeughaus ein Holzkreuz aufstellen konnten. Dieses wurde sofort von der Stasi wieder entfernt.

Wir laufen weiter zum Brandenburger Tor und betrachten zwei Fotos vom 17. Juni 1953, eines zeigt eine Deutschlandfahne auf dem Brandenburger Tor, das noch ohne Quadriga war. Auf dem zweiten Foto sind Jugendliche zu sehen, die eine rote Fahne verbrennen, diese hatten sie vorher vom Brandenburger Tor herunter geholt und die Deutschlandfahne gehisst.

Weiter laufen wir zum Platz des Volksaufstandes an der Ecke von der Leipziger Straße und der Wilhelmstraße. Hier ist der zentrale Erinnerungsort für den Aufstand. Am Denkmal liegen bereits eine Menge großer Blumenkränze, wir legen Rosen dazu. Hier wurde am 16. Juni 1953 die schriftliche Resolution der Bauarbeiter der Großbaustelle des Krankenhauses Friedrichshain vom VEB Industriebau am Haus der Ministerien übergeben. Wir lesen den originalen Text. Der Verfasser des Textes, Max Fettling (1907-1974), der die Forderungen der Bauarbeiter in der Betriebsversammlung aufschrieb und mit seinem Namen unterschrieb, wurde dafür zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Entlassung flüchtete er in den Westen.

 Eine Rose in Erinnerung – Foto: Erdmute Nieke

Weiter laufen wir zum Potsdamer Platz. Hier wurde das Columbiahaus – ein weiteres HO-Kaufhaus – gestürmt und angezündet. Außerdem fielen hier am 17. Juni 1953 ab 11.30 Uhr die ersten Schüsse und es gab etliche Tote. Wir erinnern uns mit einem Foto an Horst Bernhagen (1932-1953). Er war Fernmeldemonteur beim Rundfunk der DDR. Er flüchtet schwer verwundet in den Westteil der Stadt und verstarb noch am 17. Juni im Elisabeth-Krankenhaus. Wir sehen ein Foto von sieben aufgebahrten Särgen vor dem Schöneberger Rathaus. Einige Opfer des Aufstandes, die es in den Westteil der Stadt geschafft hatten und die an ihren Verletzungen starben, wurden auf dem Friedhof in der Seestraße im Wedding bestattet.

Wir laufen weiter zum ehemaligen Friedrichstadtpalast neben dem Berliner Ensemble. Heute steht da ein Hotel. Hier tagte 1953 gerade eine außerordentliche Sitzung des SED-Parteiaktivs, in der Walter Ulbricht und Otto Grotewohl einen neuen Kurs nach dem Tod von Stalin begründen wollten und sollten. Am 17. Juni fliehen die Parteifunktionäre mit militärischem Schutz in die sowjetische Kommandantur nach Karlshorst. Dort wurde dann der Einsatz von 6.000 sowjetischen Panzern gegen die Demonstrierenden beschlossen und befohlen. Die Befehl lautete „nur“ über die Menge zu schießen. Dennoch starben mindestens 55 Menschen unmittelbar in den Tagen des 17. Juni 1953.

Dann laufen wir weiter über die Torstraße in Richtung Krankenhaus Friedrichshain, wo der Marsch der Bauarbeiter am 16. Juni 1953 begann. Wir legen noch eine Pause am heutigen Soho House ein. Gebaut wurde das repräsentative Eckhaus in den zwanziger Jahren als Kaufhaus Jonass. (Vielleicht bekannt durch die ZDF-Serie „Haus der Träume“.) Ab Sommer 1945 war es der Sitz der SPD und der KPD im sowjetischen Sektor. Nach der Zwangsvereinigung 1946 befand sich hier das Zentralkomitees der SED und das Gebäude erhielt den Namen „Haus der Einheit“. Hier arbeitete Wilhelm Pieck. Wütende Arbeiter griffen am 17. Juni das Haus der Einheit erfolglos an.

Dann laufen wir laufen zurück zum Strausberger Platz und haben zwölf Kilometer auf den Laufuhren. Auf einer Picknickdecke auf der Karl-Marx-Allee gibt es alkoholfreies Bier und Tee, Salziges und ein Erinnerungsgeschenk.

  Picknick nach dem Lauf – Foto: Erdmute Nieke

Unser zweiter Zeitzeuge ist Wilfried.

Berliner Marathonläufer:innen kennen ihn als Marathonkönig (#415, 46 Teilnahmen von 48 BERLIN-MARATHON).

Wilfried Köhnke (r.) und Erdmute Nieke – Zeitzeuge Wilfried auf dem Alexanderplatz – Foto: Manfred Templin

Wilfried erzählt uns nach dem Lauf, dass sein Vater sich 1953 in der brandenburgischen Prignitz in der Dorfversammlung gegen die Zwangskollektivierung geäußert hat. Dafür wurde er in den Tagen um den 17. Juni 1953 von der Stasi abgeholt und war sechs Wochen in Pritzwalk im Gefängnis. Wilfried ist da fünf Jahre alt, seine Schwester sechs Jahre und sein Bruder sechs Wochen. Wilfried kann sich gut an die bedrückende Stimmung zu Hause erinnern. Zwei Jahre später ist die fünfköpfige Familie geflüchtet. Die Flucht ging über das überfüllte Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin (West) in die Pfalz.

Auf dem Erinnerungsgeschenk ist eine bundesdeutsche Briefmarke zum 17. Juni 1953 abgebildet. Sie zeigt zwei erhobene Fäuste, die mit Ketten gefesselt sind.

Das Erinnerungsgeschenk – Foto: Erdmute Nieke

Ein passendes Symbol für den Aufstand von 1953. 6.000 sowjetische Panzer (in der gesamten DDR) , getötete Menschen und viele Repressalien nach diesem Versuch für die Freiheit zu kämpfen, hat die Menschen in der DDR in Ketten gehalten und erst 1989 mit den Protesten der nächsten Generation zur Freiheit geführt.

Da waren wir Nachgeborenen von 1953 uns einig. Das Leben dieser Generation – an 700 Orten in der DDR haben mehr als eine Million Menschen gestreikt, demonstriert und protestiert – wurde von der brutalen Niederschlagung sehr geprägt. Es es ist heute wichtig, die Geschichte nicht zu vergessen. Wilfried hat es so auf den Punkt gebracht: „Der Volksaufstand war für unser Land und diese Stadt ein wichtiges politisches Ereignis.“

Zwölf Menschen haben am 17. Juni 2023 diese Erinnerungen laufend wach gehalten.

Erdmute Nieke

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author: GRR