2016 Olympic Games Rio De Janeiro, Brazil August 12-21, 2016 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
42 km unter zwei Stunden? Marathon als Laborversuch – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Welchen Wert haben Weltrekorde? Der europäische Leichtathletik-Verband hat in dieser Wochen den radikalen Vorschlag gemacht, sich der alten (und neuen) Bestmarken zu entledigen und Rekordlisten auf Null zu stellen.
Dies steht für die Überzeugung, dass Schallmauern und die Leistungen, mit denen Menschen sie durchbrechen, relativ sind. Sie können neu definiert werden, etwa im Hinblick auf Transparenz und Doping-Kontrollen.
Es ist ohnehin besser, klingt bei der angeregten Reform durch, das Messergebnis einer sportliche Leistungen nicht für sich zu betrachten, sondern den Wettkampf zu respektieren: Hat der Sieger die besten Herausforderer besiegt, musste er für den Erfolg kämpfen?
Das Gegenteil verfolgen der Sportartikelhersteller Nike und sein Spitzenläufer Eliud Kipchoge an diesem Wochenende.
Mehr als dreißig Millionen Dollar lässt es sich das Unternehmen kosten, dass der Olympiasieger von Rio und vermutlich stärkste Langläufer der Gegenwart auf einem 2400 Meter langen Rundkurs der Formel-1-Strecke von Monza versucht, die 42,195 Kilometer eines Marathons in weniger als zwei Stunden hinter sich zu bringen. Dahinter steckte die Vorstellung, dass die Magie der klassischen Distanz und die phantastische Schallgrenze von 120 Minuten einen Überschall-Knall auslösen, den niemand in der Welt des Sports überhören kann.
„Diese Herausforderung ist genau das, was Nike antreibt“, heißt es auf der Website der Unternehmung breaking2. „Das Unmögliche ist eine Gelegenheit, die Zukunft des Sports zu vergegenwärtigen.“
Die europäische Leichtathletik will die Rekorde vom Sockel holen.
Nike will eine Bestzeit in die Vitrine stellen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit und unter Bedingungen erzielt, besser: erzeugt wird, die eine Anerkennung als Rekord nicht zulassen. Der Lauf ist eher ein Laborversuch als ein Rennen.
Zwar rennt Kipchoge selbstverständlich. Doch vor und neben ihm läuft eine Armada von Tempomachern, die wie eine Sturmreihe beim Eishockey wechseln kann. Vorneweg rollt, zwar automatisch gesteuert, doch mit einem Formel-1-Testfahrer besetzt, ein Tesla. Die riesige Zeitanzeige auf dem Dach des Elektro-Luxuswagens ist weniger dazu da, Durchgangszeiten zu annoncieren, als vielmehr einen mächtigen Windschatten zu werfen.
Es ist, als renne Kipchoge hinter einer Schrankwand.
Von den Abermillionen, die Nike dafür ausgibt, vermutlich am Samstag früh um fünf Uhr die Bestzeit anzugehen, wird Kipchoge einen beträchtlichen Batzen einstreichen. Er hat schließlich auf seine Teilnahme am London-Marathon verzichtet und alle damit verbundenen Preise und Prämien. In den vergangenen beiden Jahren gewann er in London und kam bei seinem zweiten Sieg in 2:03:05 Stunden dem drei Jahre alten Weltrekord seines Landsmannes Dennis Kimetto acht Sekunden nahe.
Das Gerücht, er werde mit einer Million allein für die Teilnahme an breaking2 belohnt, klingt nicht abwegig.
Denn womöglich werden Kipchoge und seine Mitstreiter Zersenay Tadese aus Eritrea und Lelisa Desisa aus Äthiopien so schnell laufen wie niemand zuvor auf der Marathon-Strecke, aber so wenig Anerkennung finden wie Geoffrey Mutai und Moses Mosop dafür, dass ihnen so etwas 2011 gelang. Sie gewannen den Boston-Marathon in 2:03:02 und 2:03:06 Stunden und unterboten deutlich den damaligen Weltrekord. Doch die Bestzeit wurde nie als Rekord ratifiziert, weil die Strecke insgesamt leicht abfällt.
Da sei die Öffentlichkeits-Maschinerie von Nike vor, dass niemand die Bestzeit ernst nimmt. Zwar umfasst das Budget für die Verbesserungen in Vorbereitung und Ausstattung der Läufer einen ordentlichen zweistelligen Millionenbetrag. Es soll leistungssteigernde Schuhe geben, Flügelchen an den Waden, Spezial-Kleidung und Spezial-Getränk, all das, was der britische Sportwissenschaftler Yannis Pitsiladis mit seinem Projekt „sub2hrs“ verfolgt und was er auf der Suche nach Sponsoren Nike vorstellte – bis auf die Zusammenarbeit mit der Welt-Anti-Doping-Agentur.
Um 2:58 Minuten soll Kipchoge den Weltrekord unterbieten. Das klingt nach nicht viel, 178 Sekunden auf 42 195 Metern. Verlängert man die Kurve, welche die Weltrekorde der vergangenen Jahre und Jahrzehnte verbindet, trifft sie erst gegen 2030 oder 2040 auf die Zwei-Stunden-Linie. Für die Beschleunigung um Jahrzehnte muss Kipchoge ohne Unterlass 422 Mal hundert Meter in 17 Sekunden laufen.
Ebenso gut wie Forscher und Entwickler sollen die Film-Crews ausgestattet sein.
Nike lässt keine Fernsehteams zu und verlangt von Mitarbeitern eine vier Seiten lange Verschwiegenheitserklärung. Von dem Lauf will das Unternehmen im Netz live selbst produzierte Bilder streamen. Man wird sehen, ob der Großeinsatz nimmermüder Kamerateams Werbeclips oder den vorgesehenen Dokumentarfilm hervorbringt.
Die Verschiebung des Laufs von Freitag auf Samstag hat nicht damit zu tun, dass die prognostizierte Windstille ausbleiben könnte. Vielmehr soll der Lauf symbolischen Wert erhalten, indem er am Jahrestag des legendären Rennens vom 6. Mai 1954 stattfinden, in dem Roger Bannister als Erster die Meile in weniger als vier Minuten lief. In der angelsächsischen Welt ist dies ein magischer Rekord.
Jubelnde Zuschauer, wie einst in Oxford, soll es auch in Monza geben. Nike hat prominente Sportler eingeladen.
Zur Bekräftigung der Idee von der Bestzeit.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 5. Mai 2017