Ihr 21 Jahre alter Sohn stürzte aus dem Anlauf unter der Latte hindurch auf die Matte. Mit gebrochenem Fußknöchel und dem Abriss aller Bänder blieb er liegen. „Es war mein letzter Versuch, ich wollte unbedingt über die 2,25 Meter
2,34 Meter übersprungen – Eike Onnen macht der Mutter Angst – Michael Reinsch, Berlin – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)
Kaum an der frischen Luft, hat der Hochspringer Eike Onnen seine Bestleistung um sechs Zentimeter gesteigert. In Garbsen überflog der Vierundzwanzigjährige am Sonntag zum Einstieg in die WM-Saison 2,34 Meter. Er ließ 2,37 Meter auflegen, danach sogar 2,39 Meter. „Ich war drüber“, sagt er über seinen letzten Sprung des Tages, „aber ich bin zu früh geklappt.“
Mit dem Po streifte er die Latte; nach kurzem Zögern fiel sie. Zwar ist aus dem deutschen Rekord nichts geworden. Doch so hoch wie Onnen ist seit sechs Jahren, seit Martin Buß mit 2,36 Meter Weltmeister wurde, kein deutscher Athlet mehr gesprungen.
Wenn Eike Onnen allerdings anläuft, läuft jedes Mal das Risiko mit. Seine Mutter, die ehemalige Siebenkämpferin Astrid Fredebold-Onnen, nimmt dann die Hände hoch und hält sich die Ohren zu. Die Augen darf sie nicht verschließen, sie ist seine Trainerin. Aber sie fürchtet das schreckliche Geräusch, das sie vor dreieinhalb Jahren in Dortmund bei den deutschen Hallenmeisterschaften hörte und das nachklingt in ihrer Erinnerung: ein Krachen, ein Knall, ein Schrei.
Alles dreht sich um den linken Fuß
Ihr 21 Jahre alter Sohn stürzte aus dem Anlauf unter der Latte hindurch auf die Matte. Mit gebrochenem Fußknöchel und dem Abriss aller Bänder blieb er liegen. „Es war mein letzter Versuch, ich wollte unbedingt über die 2,25 Meter. Ich bin zu dicht an die Latte gelaufen und habe dabei den Absprungfuß zu weit gedreht. Alle Bänder wurden an den Ansätzen abgestrippt“, erinnert sich Eike Onnen. Erst im Krankenhaus realisierte der Hannoveraner Hochspringer, wie schwer er verletzt war.
Einen Monat lang lag Onnen still, bis die Schwellung so weit abgeklungen war, dass der Knöchel überhaupt operiert werden konnte. Die Titanplatte, die den Fuß stabilisierte, wurde im Herbst 2004 entfernt. Die Haken, die die Bänder halten, sitzen immer noch im Knöchel. Bei der deutschen Hallen-Meisterschaft in Leipzig siegte Onnen mit 2,22 Metern. Er war unzufrieden, weil er seine Bestleistung im Winter über 2,28 auf 2,30 Meter gesteigert hatte. Aber sein Fuß schmerzte. Auf die Hallen-Europameisterschaft musste er wegen einer Grippe verzichten. Vor sechs Wochen zog er sich eine Leistenverletzung zu, die lange am Training hinderte. Nur für drei Einheiten war Zeit vor Garbsen.
WM und Abitur 2009
Alles dreht sich um den linken Fuß des Wackelkandidaten: sein Sprung, sein Leben und die Angst seiner Mutter. „Er wiegt neunzig Kilo“, sagt sie. „Wenn er den Schwung des Anlaufs in die Vertikale bringt, lasten für einen Moment neunhundert Kilo auf dem Knöchel.“ Je mehr er den Fuß verdreht, desto größer die Belastung. Niemand weiß, wie lange Knochen und Bänder das aushalten. „Das ist ein hohes Risiko“, bestätigt Bundestrainerin Brigitte Kurschilgen. „Aber so ist das im Spitzensport: Man muss etwas riskieren.“
Der enge Radius seiner Anlaufkurve, seine Neigung, die letzten Schritte zu lang zu machen und ganz dicht an der Latte abzuspringen, hatten sich bei den Wettkämpfen der Hallensaison weiter ausgeprägt. „An bestimmten Tagen ist das ein Risiko“, räumt der 1,96 Meter große Onnen ein. „Die Technik hatte sich während der Meetings verschlechtert.“ Im Training arbeitet er daran, die Gefahr zu entschärfen: indem er nicht nur höher, sondern auch weiter springt.
„Ich will einen eigenen deutschen Rekord“
„Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich überhaupt wieder springen kann“, sagt Onnen. Weil er sich auf das nächste Wunder nicht verlassen will, drückt er wieder die Schulbank. Mittlere Reife, Höhere Handelsschule, Zivildienst und schließlich ein Job im Krankenhaus – so sah sein beruflicher Werdegang bisher aus. „Kann sein, dass ich mir wieder den Fuß breche“, sagt er. „Dann bin ich wieder weg vom Fenster.“ Seit Dezember geht er deshalb aufs Abendgymnasium. Er weiß, dass er nicht allein auf den Sport setzen kann. Im Jahr der Weltmeisterschaften in Berlin, 2009, will er die letzten Abiturprüfungen ablegen. Danach geht es wieder ins Krankenhaus: Eike Onnen will Medizin studieren.
Die Prüfung dieses Jahres wird der Umgang mit den Erwartungen sein, wie sie Ergebnisse wie das vom Wochenende schaffen. Onnen feuert das nur an. „Ich will einen eigenen deutschen Rekord“, sagt er. Dafür muss er die 2,37 Meter übertreffen, die Carlo Thränhardt vor bald 23 Jahren sprang.
„Ich werde das in diesem oder im nächsten Jahr schaffen“, verspricht Onnen.
Michael Reinsch
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Dienstag, dem 22 Mai 2007