Um zu einem Empfang zu seinen Ehren im New Yorker Waldorf Astoria zu gelangen, durfte Owens nicht den Personenaufzug benutzen, nur den für Lasten.
17 Tage im August – Wie Jesse Owens Berlin erlebte und danach seine Heimat USA: 75 Jahre Olympische Spiele 1936 – Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung
Aus den Annalen der zerklüfteten olympischen Geschichte sticht der 1. August 1936 schroff heraus. Nicht, weil das Datum im goldenen Rahmen stünde oder rot unterstrichen wäre. Seiner braunen Einfärbung wegen markiert es den Beginn einer fortan latent gefährlichen Entwicklung, steht es doch für den bis dahin erfolgreichsten Versuch der Politik, den Sport zu korrumpieren.
Verführt haben ihn die Nationalsozialisten (NS), in deren Machtzentrum Berlin an jenem ersten August die Olympischen Sommerspiele eröffnet wurden. Dieser Tag jährt sich jetzt zum 75. Mal.
Neben dem Olympischen Dorf für die Athleten in Elstal, das in seiner großzügigen Form bei Olympia so noch nie zu sehen war und bei den Sportlern großen Anklang fand, hatte die NS-Propaganda ein Potemkinsches Dorf für das nach drei alarmierenden Hitler-Jahren argwöhnisch gewordene Ausland errichtet: wohlfeil die Fassade einer glänzend funktionierenden, die Vorgaben des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) streng beachtenden Organisation – schmutzig der Hintergrund mit dem sinisteren Treiben der NS-Ideologen.
Eine Irreführung, die im Übrigen auf Nachhaltigkeit angelegt war. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wähnte sich ein Teil der Deutschen in dem Glauben, der Sport habe die Berliner Wundertüte gefüllt und nicht die Politik.
Wer in jenen Tagen, nicht trunken von den Höchstleistungen der Sportler, einen Blick hinter die Kulisse erhaschen konnte, bekam gleichwohl eine Ahnung vom heraufziehenden Unheil. So ist denn der 1. August 1936 auch ein Datum der deutschen Geschichte.
Die Nazis hatten alles im Griff. Nur dass sich „ihre" Spiele thematisch auf die virtuelle Konfrontation des Rassisten Hitler mit dem afro-amerikanischen Sprintwunder Jesse Owens zuspitzten und der Führer dabei schlecht aussah, vermochten sie nicht verhindern. Bis heute wird Olympia 1936 wie keine andere Ausgabe der Sommerspiele zuerst mit dem Triumph des vierfachen Goldmedaillengewinners aus Cleveland (Ohio) assoziiert.
Andererseits, wie wären die 36er-Spiele ohne Owens und die anderen schwarzen Athleten, „Hilfstruppe" (NS-Medien) des US-Teams, bewertet worden?
Dass ein Laufgenie herüber kommen würde aus den USA, das im Mai 1935, 21-jährig, mit vier Weltrekorden innerhalb von 45 Minuten die Ruhmeshalle der Leichtathletik erstürmt hatte, war auch in Nazi-Deutschland bekannt, das Interesse an Owens jedoch: zunächst ambivalent. Als der am Tag nach der Eröffnungsfeier in den ersten zwei Runden des 100-m-Bewerbs seine Sprintkunst vortrug, majestätisch, federleicht, dominant, ließen sich hunderttausend Deutsche zum Entsetzen der NS-Bonzen hinreißen zu Sprechchören und Begeisterungsstürmen. Verdrängt die Schmähungen, mit denen der schwarze Athlet in den Medien empfangen worden war, als Wesen einer minderwertigen Rasse, dem Arier unterlegen, den Affen ähnlich.
Indes, nicht die Verärgerung über den fehlgeschlagenen Versuch, das Stadion in ein Schaufenster des Wahns von der Überlegenheit der arischen Rasse zu verwandeln, veranlasste den Zuschauer Adolf Hitler, Owens die persönliche Gratulation zum ersten Berlin-Gold zu verweigern. Dies hatte die US-Presse vermutet, nachdem der Kanzler tags zuvor die deutschen Medaillengewinner Tilly Fleischer, Hans Woellke und Gerhard Stöck sowie den Finnen Ilmari Salminen in seine Loge zur Gratulationscour gebeten hatte. Vielmehr war Hitler diese Extratour vom belgischen IOC-Präsident Baillet-Latour noch am Abend vor dem Owens-Sieg am Tag darauf untersagt worden, alldieweil sie der IOC-Charta zuwiderlief. Der Vorgang ist lange Zeit unaufgeklärt geblieben und Teil des Mythos Owens.
Hitler lehnte auch den Vorschlag ab, sich in einem Hinterzimmer mit dem noch über 200 m, 4×100 m und im Weitsprung siegenden Owens ablichten zu lassen. „Die Amerikaner sollten sich schämen, ihre Medaillen von Negern gewinnen zu lassen. Ich werde niemals einem von ihnen die Hand geben", soll er gesagt haben.
2009 allerdings behauptete ein betagter deutscher Journalist, Owens habe ihm 1964 bei einem Berlin-Besuch ein Foto gezeigt, auf dem er mit Hitler zu sehen ist. Historiker halten diese Geschichte für unwahrscheinlich.
Jesse Owens („ich bin nicht nach Berlin gekommen, um Hitler die Hand zu schütteln") bekannte Jahrzehnte nach den Spielen seinem Biograf Jeremy Schaap: „Hitler hat mich nicht brüskiert, brüskiert hat mich FDR".
Nicht mal ein Telegramm habe ihm US-Präsident Franklin D. Roosevelt damals geschickt und zum Empfang im Weißen Haus keine schwarzen Sportler eingeladen. In den USA wurde vermutet, der Präsident habe aus Verärgerung so reagiert: Alabama im Süden der USA, Owens` Geburtstaat, dem die dort in ärmlichsten Verhältnissen lebende Familie 1922 den Rücken kehrte, um sich in Cleveland (Ohio) anzusiedeln, hatte Roosevelt 1936 nicht gewählt.
Nun zeigt sich eine andere, paradoxe Seite der Owens-Legende: Im faschistischen Deutschland vom Volk zum Stadiongott erhoben (Owens: „Die Deutschen waren riesig, sie sahen mich nicht als schwarzen Mann, sondern nur meine Fähigkeiten"), in die Großdemokratie USA heimgekehrt und behandelt, wie Afro-Amerikaner dort Jahrhunderte behandelt wurden: als Menschen zweiter Klasse. Um zu einem Empfang zu seinen Ehren im New Yorker Waldorf Astoria zu gelangen, durfte Owens nicht den Personenaufzug benutzen, nur den für Lasten.
Überhaupt: Harte Zeiten standen ihm jetzt bevor. Kaum war die Olympiaflamme erloschen, erklärte der des Rassismus nicht unverdächtige und mit dem Hitler-Regime sympathisierende Präsident des US-Leichtathletik-Verbands AAU, Avery Brundage, seinen besten Athleten kurzerhand zum Profi. Owens hatte nach seinen Berliner Wettkämpfen mit dem AAU-Team an drei Sportfesten in Köln, Bochum und London teilgenommen, einen letzten Start in Schweden aber mit der Begründung abgelehnt, er sei nach 16 Starts in 18 Tagen am Ende seiner Kräfte und wolle nach Hause – für Brundage ein willkommener Anlass, umgehend zu handeln.
Er behauptete nun, der nicht auf Rosen gebettete Owens habe eines der zahlreich eingegangenen Profiangebote bereits angenommen. Belegen musste der Multifunktionär den Vorwurf nicht. Brundage hatte schon 1932 bei der Disqualifikation des finnischen Langstrecken-Heros Nurmi die Finger im Spiel gehabt, und 1972, inzwischen IOC-Präsident, dem Skifahrer Schranz das Olympiastartrecht entzogen.
Ende 1936 rannte der schnellste Mensch gegen die schnellsten Pferde. In Havanna besiegte er, mit einer Vorgabe versehen, den Wallach Julio McCaw über 100 Yards, anschließend musste er sich dafür entschuldigen: „Es war schlimm, aus olympischen Höhen herab zu kommen und gegen Tiere anzutreten, aber ich musste irgendwie leben, die vier Goldmedaillen konnte man ja nicht essen". In den Wirren der Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre ging den Amerikanern die Erinnerung an Jesse Owens verloren. Von Job zu Job hetzend, ernährte er seine Familie.
Erst Anfang der 1950er-Jahre nahm das öffentliche Leben ihn wieder wahr. Jetzt bediente sich auch die Politik in Washington seines Namens. Präsident Gerald Ford korrigierte 1976 mit der Verleihung der Friedensmedaille Roosevelts Benehmen 40 Jahre zuvor, Jimmy Carter nannte Owens 1979, ein Jahr vor dessen Tod, eine „lebende Legende" und George Bush sen. ihn 1990 „einen olympischen und amerikanischen Held, an jedem Tag seines Lebens". Straßen, Plätze, Parks trugen plötzlich seinen Namen, Cleveland errichtete ein übermannshohes Owens-Denkmal.
Über sein Los als schwarzer US-Bürger hat Owens sich nie beklagt. Er zehrte zeitlebens vom Stolz, „wenigstens einmal der berühmteste Mensch der ganzen Welt" gewesen zu sein.
17 Tage im August 1936.
Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung, Samstag/Sonntag, dem 30./31. Juli 2011