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„100 Jahre Exzellenz“ – Zweieinhalb Kilogramm Leichtathletik – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – „100 Jahre IAAF“
30.01.2013 · Hier wird das Universum Leichtathletik durchmessen: In einem Prachtband feiert der Weltverband sich und seine Protagonisten. Doch es gibt auch bittere Tropfen im Geburtstagschampagner.
Gerannt wurde schon immer. Das kam mit dem aufrechten Gang. Und die mehr als 1000 Jahre alten Darstellungen von Läufern, Springern und Werfern aus dem antiken Olympia belegen, dass es schon früh organisierte, internationale Wettkämpfe gab. Ein Wunder, dass die Funktionäre von heute nicht die Priester Olympias als ihre Vorläufer begreifen.
Lediglich seine ersten 100 Jahre feiert der Welt-Leichtathletikverband (IAAF), und zwar schon im 99. Jahr seines Bestehens. Dazu lud er nach Barcelona ein, bestückte das Sportmuseum mit einer Leichtathletik-Ausstellung und legte ein Riesenbuch auf, das zum Schwelgen einlädt. Obwohl es allein um die jüngste Geschichte geht, wiegt der Prachtband mit mehr als 400 Seiten mehr als der Diskus von Olympiasieger Robert Harting: zweieinhalb Kilo.
100 Jahre also. Seit den olympischen Feiertagen von London erscheint die Leichtathletik verjüngt und erfrischt. Und wieso eigentlich „1912 bis 2012“, wie das in französischer und englischer Sprache erschienene Buch „Leichtathletik – 100 Jahre Exzellenz“ überschrieben ist? Schließlich versammelten sich im Anschluss an die Olympischen Spiele 1912 zwar die Repräsentanten von 16 Olympiateams im Reichstag von Stockholm. Doch sie beschlossen, den Verband ein Jahr darauf in Berlin zu gründen, wohin der unvermeidliche Carl Diem als Vertreter der Deutschen Behörde für Athletik eingeladen hatte.
Im August 1913 wurde der Weltverband gegründet. Die Versammlung von Stockholm aber betrachtet er als seinen ersten Kongress. Vermutlich hat es weniger mit Aberglaube zu tun, die Jahreszahl 13 zu meiden, als vielmehr mit der Attraktion Olympischer Spiele. London habe glanzvoll daran erinnert, welchen außerordentlichen Stand die Leichtathletik habe, schreibt Lamine Diack, der Präsident der IAAF, im Vorwort. Es sei schlagend, dass dieses Ereignis mit dem Jubiläum zusammenfiel.
Machen die Sprint-Triumphe der Jamaikaner die Leichtathletik verdächtig? Oder liefert die unbeschwerte Überlegenheit ihres Vorläufers Usain Bolt den Star-Appeal, der die Sportart vor dem Verschwinden in die Nische bewahrt? Beides trifft zu, und beides ist Teil der Vielfalt, die sich im tosenden Rund neun Tage lang feierte und von einem enthusiastischen Publikum gefeiert wurde. Die Briten bekamen wie zum Dank ihren Golden Saturday: den Samstag, an dem hintereinander Jessica Ennis den Siebenkampf, Greg Rutherford den Weitsprung und schließlich Mo Farah den 10.000-Meter-Lauf gewannen. London war die Geburtstagsfeier, der Geburtstag konnte warten.
Universum Leichtathletik: eine Welt, die größer ist als ihre 24 olympischen Disziplinen
Auch dieses Fest gehört zur Entwicklung und Vielfalt der ältesten Sportart der Welt, in welche die 28 Kapitel des Buches stärker hineinziehen als seine 200 Bilder. Eine Geschichte der Regeln und eine des 100-Meter-Laufs, der Aufbruch Afrikas, die Zulassung von Frauen zu Olympia erst 1928 und die Vorstellung, dass Strecken jenseits von 400 Metern sie überforderten, die Magie der Meile und das Rätsel des Gehens: Hier wird das Universum Leichtathletik durchmessen, eine Welt, die größer ist, als ihre 24 olympischen Disziplinen beschreiben können.
Modernisiert und korrumpiert gleichermaßen
Seit den ersten Kontrollen 1969, behauptet Diack, habe sein Verband Krieg gegen Doping geführt, denn stets sei der IAAF bewusst gewesen, dass die Glaubwürdigkeit des Sports auf dem Spiel stand. Das geht zu weit. Primo Nebiolo, der wohl mächtigste Präsident, den die Leichtathletik je hatte, modernisierte nicht nur seine Sportart, sondern korrumpierte auch ihre Ideale.
1981 übernahm er die Führung der IAAF, als sich die olympische Welt vom Dogma des Amateurismus verabschiedete und das Wettrüsten des Kalten Krieges als Chance zum Aufschwung begriff. „Nebiolo hat es verstanden, Leichtathletik auf den Platz zu erheben, den sie in der Gesellschaft von heute verdient“, rief IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch dem Italiener nach, als dieser 1999 starb.
Nach dem Dopingfall Ben Johnson führte die IAAF Trainingskontrollen ein. „In einigen Fällen zogen die Athleten den Stecker, um rechtzeitig für die großen Wettkämpfe frei von Dopingspuren zu sein“, schreibt der Sporthistoriker Roberto L. Quercetani. „Die DDR steuerte ein meisterhaftes Beispiel in diesem Zusammenhang bei, wie einige Jahre später Brigitte Berendonk in ihrem Buch ,Doping – von der Forschung zum Betrug’ eindeutig beschrieb.“
Quercetani wird in seinem Widerspruch zu Diack deutlich. Nur noch zwei der 24 Männerweltrekorde stammten aus den achtziger Jahren, schreibt er; der älteste sind die 74,08 Meter, die der heutige Diskus-Bundestrainer Jürgen Schult im Juni 1986 erreichte. „Auf Seiten der Frauen sieht das Bild anders aus. Nicht weniger als elf der 23 Weltrekorde stammen aus den verruchten Achtzigern. Dieses grobe Adjektiv drängt sich durch die Tatsache auf, dass die Antidoping-Regeln der IAAF erst 1989 mit der Einführung von zufälligen Trainingstests (. . .) ausreichend streng wurden.
Hier gehört der älteste Rekord Jarmila Kratochvilová – 1:53,28 für 800 Meter – und stammt von 1983. Insbesondere anabole Steroide, damals weit verbreitet, scheinen Wunder gewirkt zu haben“, schreibt Quercetani. Sein Beitrag sorgt für bittere Tropfen im Geburtstagschampagner.
Die neue „Hall of Fame“ der Leichtathletik, die ebenfalls in diesem Buch gefeiert wird, entspricht der unkritischen Heldenverehrung, wie sie Diack bevorzugt. Ihr gehört die chinesische Olympiasiegerin Wang Junxia an, die als Mitglied der Truppe des berüchtigten Trainers Ma Junren, und mit dem zwanzig Jahre alten 10.000-Meter-Weltrekord von 29:31,78 Minuten Verdacht erregte.
Der 90 Jahre alte Historiker Quercetani schreibt seinen Leichtathleten ins Stammbuch, dass er bei allem großartigen Fortschritt der Überzeugung sei, dass der Preis, den Athleten für Rekorde und Medaillen zahlen müssten, manchmal zu hoch sei.
Er wünsche den Verantwortlichen, und da kann man sich nur anschließen, dass sie sich vor allem berufen fühlten, die Integrität des schönsten Sports der Welt zu bewahren.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 30. Januar 2013
Siehe auch:
IAAF 1912-2012: 100 Years of Athletics Excellence