Der verkaufte Athlet
100. Geburtstag von Jesse Owens am 12. September 2013
Jesse Owens wird so gut wie in allen Ehrenlisten des Sports stets unter die ersten zehn Preisträger gewählt. Eine unübersehbare Zahl journalistischer Beiträge erinnert an die Sportlegende Owens mehr oder weniger umfangreich und mischt oftmals Erfundenes mit Halbwahrem.
Allein eine Aufstellung, wer wann was zur Owens-Biografie hinzugedichtet hat, würde eine ganze Broschüre füllen. Erst die englischsprachige Biografie „Jesse Owens. An American life." von William L. Baker (1986) bot eine vertrauenswürdige Grundlage, die aber noch in etlichen Details zu korrigieren ist.
Eine fundierte deutschsprachige Biografie ist bisher noch nicht erschienen. Die Fotoausstellung nebst Katalog des Sportmuseum Berlin von 2009 kann eine Owens-Biografie nicht ersetzen. Sie veröffentlichte aber erstmals in Bildern umfänglich, wie Owens in Berlin bei den Olympischen Spielen 1936 zum zweiten Mal nach seinen Erfolgen 1935 in Ann Arbor Sportgeschichte schrieb:
Er ist der erste afroamerikanische Leichtathlet, der bei Olympischen Sommerspielen vier Goldmedaillen gewann. In den Sportschuhen eines deutschen Schuhfabrikanten avancierte Owens in Berlin zum Star der Olympischen Spiele 1936 und führte mit seinen Erfolgen die Rassenpolitik und die Propaganda des Nazi-Reiches ad absurdum.
Owens besuchte Berlin nach 1945 dreimal und wurde hier öffentlich geehrt – auch hiervon berichtet die Fotoausstellung, die zur Zeit im Olympischen Dorf von 1936 in Elstal gezeigt wird. Aus Anlaß des 100. Geburtstages werden die wesentlichen Texte aus dem Ausstellungskatalog zur Fotoausstellung hier veröffentlicht.
Lebensdaten
1913 James Cleveland Owens, geboren in Oakville, Alabama.
1922 Die Familie Owens zieht nach Cleveland, Ohio. Owens geht zur Bolton Elementary School, wo er
versehentlich den Namen „Jesse" erhält.
1927 Er besucht die Fairmount Junior High School; trifft dort Charles Riley; bricht zwei Altersklassenrekorde im Hoch- und im Weitsprung.
1930 Jesse geht zur Clevelands East Technical High School und wird Mitglied des Leichtathletikteams.
1932 Die Beziehung zu Minnie Ruth Solomon beginnt. Jesses erste Tochter, Gloria, wird geboren. Jesse verpasst die Qualifikation für die U.S. Olympiamannschaft.
1933 Bei den nationalen Schulmeisterschaften in Chicago: Jesse stellt den Sprint-Weltrekord über 100 Yards ein und bricht den Weltrekord über die 220 Yards. Jesse schreibt sich an der Ohio State University ein und arbeitet Teilzeit im Ohio State House.
1934 Er wird durch die Amateur Athletic Union für das All-America Track and Field Team nominiert.
1935 Bei den Big Ten Meisterschaften in Ann Arbor, Michigan, egalisiert bzw. bricht Jesse insgesamt vier Weltrekorde an einem Nachmittag. Jesse und Minnie Ruth heiraten.
1936 Als Mitglied der U.S. Olympiamannschaft in Berlin: Owens gewinnt vier Goldmedaillen; unterschreibt einen Vertrag mit dem Agenten Marty Forkins und verliert seinen Amateurstatus. Nach einer Konfetti-Parade in New York City wirbt er für Alf Landon.
1937 Jesse bestreitet Showwettkämpfe; hat Geschäftsauftritte als Bandleader; Eigentümer von Basketball- und Softballmannschaften und nimmt an Leichtathletikshowveranstaltungen teil. Partner einer Textilreinigung. Seine zweite Tochter, Marlene, wird geboren.
1940 Jesses Eltern sterben. Seine dritte Tochter, Beverly, wird geboren. Jesse schreibt sich erneut an der Ohio State University ein und arbeitet als Assistenztrainer der Leichtathletikmannschaft.
1941 Er verläßt die Universität; tritt die Stelle als Leiter des nationalen Fitnessprogramms des Civilian Defense Offices an.
1942 Tritt die Stelle als Personalleiter der Ford Motor Company an.
1945 Gründet eine Public Relations Firma.
1949 Zieht nach Chicago, um als Direktor der Verkaufsförderungsabteilung eines Bekleidungsgeschäfts zu arbeiten.
1950-1956 Owens wird von der Associated Press (AP) zum besten Leichtathleten gewählt; reist als Botschafter für das State Department; reist 1956 als Goodwill-Botschafter für das State Department und als Repräsentant von Präsident Eisenhower zu den Olympischen Spielen; gründet eine Public Relations Agentur; wird ein beliebter Motivationsredner; organisiert das Junior Sports Jamboree von 1956.
1960 Tritt bei „This Is Your Life" auf.
1964 Wirkt bei der Erstellung des Films „Jesse Owens Returns to Berlin" mit.
1968 Owens scheitert beim Versuch, den Protest bei den Olympischen Spielen in Mexico City zu entschärfen.
1970 Veröffentlicht mit Paul G. Neimark „The Jesse Owens Story" und „Blackthink".
1972 Veröffentlicht mit Paul G. Neimark „I Have Changed"; erhält ein Ehrendiplom der Ohio State University.
1974 Aufnahme in die Ruhmeshalle der Leichtathletik.
1976 Erhält die Freiheitsmedaille des Präsidenten.
1978 Veröffentlicht mit Paul G. Neimark „Jesse – the man who outran Hitler".
1980 Tritt in den Ruhestand in Scottsdale, Arizona; erhält Living Legend Award.
1980 Jesse Owens stirbt in Tucson, Arizona, an Lungenkrebs und wird auf dem Oak Woods Cemetery, Chicago, IL, beerdigt.
1990 Owens erhält die Goldene Ehrenmedaille des Kongresses.
2012 Owens wird in die Hall of Fame der IAAF aufgenommen.
Owens wird in Berlin erwartet
Owens war neben Eulace Peacock der Starathlet aus den USA geworden. Seit dem Sommer 1935 wurde in zahlreichen Vorberichten zu den Olympischen Spielen 1936 regelmäßig über Owens Leistungen berichtet.
Die deutsche Fachzeitschrift „Der Leichtathlet" druckte am 25. Juni 1935 dieses Interview eines amerikanischen Zeitungsreporters mit Jesse Owens ab:
Owens: „Ich hoffe, daß ich eines Tages Botschafter des guten Willens und der Verständigung zwischen den Negern und der weißen Rasse werde. Botschafter selbstverständlich nicht im politischen, sondern in sportlichen Sinne gemeint".
Und was gedenken Sie nach Absolvierung ihres Studiums zu tun?
Owens: „Es ist mein sehnlichster Wunsch, Coach eines Neger-College zu werden, wo ich speziell in Fächern der Leichtathletik unterrichten kann. Ich würde eine Lehranstalt in der Provinz gegen eine solche in einer Großstadt bevorzugen."
Und wie ist Ihnen zu Mute, wenn Sie jedesmal einen Rekord brechen?
Owens: „Neben der inneren Zufriedenheit lebe ich mich in die Vorstellung hinein, daß, je länger meine Rekordserie anhält, je größer die Nutznießung sein wird, die in Zukunft die farbigen Athleten durch meine Leistungen haben werden."
Der gescheiterte Boykott
Anfang November 1935 hatte Owens in einem Radiointerview öffentlich folgende Stellungnahme abgegeben: „Wenn es in Deutschland Diskriminierung gegen Minderheiten gibt, sollten wir unsere Teilnahme an den Olympischen Spielen zurückziehen."
Als Larry Snyder, der Trainer von Jesse Owens, von dieser Aussage hörte, gab er Jesse sofort den Ratschlag von weiteren Stellungnahmen bzgl. dieser Thematik abzusehen. Dieser Vorgang sickerte an die Öffentlichkeit, so daß eine Gruppe besorgter Bürger Snyder in seinem Büro aufsuchte und ihn drängte nicht die „Gag Rule" (Diskussionsverbot) für Owens anzuwenden.
Ihr Bemühen war umsonst. „Jesse Owens ist auf der Höhe seines Erfolges", erwiderte Snyder. „Wenn er sich weiter an dieser Bewegung beteiligt, wird er ein vergessener Mann sein".
Er hat dann unabsichtlich den Hauptanklagepunkt der schwarzen Presse auf den Kopf gestellt: Jesse Owens und andere schwarze Athleten wurden nicht zum in New Orleans bevorstehenden Sugar Bowl Wettkampf eingeladen und keiner kam auf die Idee diese Spiele abzusagen. „Warum sollten wir uns für etwas gegen Deutschland richten, was wir selber hier bei uns zu Hause tun?"
Nach den Spielen: Schulfach Rassismus
Im zehnten Heft der Schriftenreihe „Neuland in der Deutschen Schule. Beiträge zur praktischen Volksschularbeit", Heft 10. Leipzig: 1936, das sich mit dem Thema „Die Zeitung im Dienst der Rassenkunde" beschäftigt, werden Owens und Long funktionalisiert, um im Schulfach „Rassekunde" einen vermeintlichen Beweis für die Nazi-Rassenlehre zu konstruieren.
Der Autor Ernst Dobers, Professor an einer Hochschule für Lehrerbildung, kommentierte eine Fotoseite aus der Fachzeitschrift „Der Leichtathlet", die Luz Long und Jesse Owens in ähnlichen Phasen beim Weitsprung zeigt. Dobers Kommentar lautet:
„Wer die Olympiaberichte der Zeitungen verfolgte, wird sich erinnern, wie treffend vom rassebiologischen Standpunkte da mancher Kampf geschildert wurde ... Beim nordisch geprägten Menschen ein wohldurchdachter Stil, ein systematisches Heranarbeiten an den äußersten Rand der Absprungstelle, um immer bessere Leistungen zu erzielen, ein Ganz-Zusammengerafftsein des Körpers.
Bei dem Neger ein systemloses Emporschnellen des Körpers, fast wie beim eleganten und leichten Sprung eines Tieres in der freien Wildbahn. So etwa schilderten es die Sportberichterstatter der Olympiade in ihren Zeitungen. Die Bilder bestätigen es. Das Stilgesetz der Rasse läßt sich an ihnen als Realität erkennen, auch wenn es nur für einen Augenblick offenbar wird. Man zeige den Kindern, daß diese Menschen sich so verhalten müssen, daß es nicht etwa ihr unumschränkter freier Wille ist, gerade so und nicht anders zu springen, daß sie vielmehr nach unsichtbaren Gesetzen ihres Blutes, ihrer Rasse antreten müssen. Die weitere Erkenntnis muß dann sein, daß solches nicht nur auf dem Sportplatz Geltung besitzt, sondern im ganzen übrigen Leben auch, und daß es wie für den einzelnen, so auch für ganze Völker schicksalhaft ist."
Streitfall 4x100m Staffel
Die Trainer (Dean Cromwell und Lawson Robertson) versammelten am frühen Sonnabendmorgen des 8. August 1936, dem Tag der Vorläufe der 4 x 100m Staffel, ihre Sprinter in einem der Räume des olympischen Dorfes. Nervös auf und ab gehend berichtete Robertson der Gruppe von dem Gerücht, daß die Deutschen ihre besten Sprinter für die Staffel versteckt gehalten haben.
Um den Sieg sicherzustellen, sollten Owens und Metcalfe in die Staffel rücken. Dann folgte die große Überraschung: Draper und Wykoff komplettierten statt Stoller und Glickman die Mannschaft. Obwohl Draper sich nur als Dritter hinter Stoller und Glickman qualifiziert hatte, wären er und Wykoff nach Aussage der Trainer „erfahrener".
Glickman, der jüngere und forschere der beiden jüdischen Athleten, erwiderte, „Coach, das ist lächerlich. Man kann keine Weltklasse-Sprinter verstecken; die müssen laufen, um Erfahrung zu sammeln. Jede amerikanische Staffel, die sie zusammenstellen, würde mit 15 Yards Vorsprung gewinnen – jeder unserer Läufer, die Meilenläufer oder die Hürdenläufer könnten gegen die Deutschen oder jeden anderen laufen und mit 15 Yards gewinnen". Beide jüdischen Athleten aus der Mannschaft zu nehmen erschien höchst unsensibel. „Sam Stoller und ich sind die einzigen Juden in der Mannschaft", fuhr Glickman fort, „und es provoziert zu Hause bestimmt einen Aufruhr, wenn die beiden Juden aus der Mannschaft genommen werden".
Cromwells Beförderung seiner eigenen Athleten aus Südkalifornien wurde durch eine antisemitische Einstellung möglich – sie kam zum Teil eindeutig aber häufiger latent zum Ausdruck – die im olympischen Establishment und in der amerikanischen Gesellschaft insgesamt vorhanden war. Trotz der vorher von Amerikanern geäußerten Wut bzgl. der deutsch-jüdischen Frage, empfanden Cromwell und Robertson ihre Auswechselung der beiden jüdischen Athleten sozial und politisch akzeptabel. „Wir werden es sehen", antwortete Robertson auf Marty Glickmans Warnung vor einer feindseligen Reaktion in der Heimat.
Das Einzige, was sie sehen konnten, war eine kleine Welle der Kritik durch die Presse. Zur Erleichterung der Trainer hat selbst die New York Times die Entscheidung zum Zweck des Erfolges als für vertretbar erklärt. Auch heute noch ist Forrest „Spec" Towns, ein pensionierter, langjähriger Leichtathletiktrainer der University of Georgia, davon überzeugt, dass die beiden amerikanischen Trainer in Berlin einfach nur das getan haben, was sie für richtig hielten, um einen Staffelsieg sicherzustellen.
Der verkaufte Athlet
Die Athleten der USA-Mannschaft unterschreiben vor den Olympischen Spielen eine Vereinbarung mit der Amateur Athletic Union (AAU), daß sie nach den Spielen bei Sportfesten in Europa starten. Diese Meetings sollen das Defizit der Entsendung der Leichtathletikmannschaft nach Berlin decken. Nach Ende der Berliner Wettkämpfe finden am 10.8. in Köln, am 11.8. in Prag, am 12. 8. in Bochum und am 15.8. in London Sportfeste statt, bei denen Owens startet.
Der Veranstalter in Köln soll der AAU statt der 10% Einnahmebeteiligung sogar 15% geboten haben, wenn Owens in Köln antritt: Owens wird dort über 100m von Metcalfe geschlagen, gewinnt den Weitsprung mit 7,43m. In Bochum gewinnt Owens die 100m in 10,3s, wird im Weitsprung von Leichum (7,25m) geschlagen. Die Sportfeste laugen die Starathleten aus, bringen den Athleten aber kein Geld ein, so daß Owens mahnt: „Sie [die AAU] versuchen alles zu nehmen was sie können, und wir können uns nicht mal ein Souvenir von der Reise leisten."
In London erhält Owens verlockende Vermarktungsangebote, die sich hauptsächlich als Fiktion erweisen. Owens entschließt sich in Übereinkunft mit seinem Trainer Larry Snyder, an den weiteren Meetings in Skandinavien nicht teilzunehmen. Daraufhin entzieht Avery Brundage auf einer Pressekonferenz am 16.8. im Olympiastadion Berlin Jesse Owens den Amateurstatus. Owens und Snyder fahren am 19.8. mit der Queen Mary von London zurück nach New York.
GeSte, Forum für Sportgeschichte
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